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Das Gewissen

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Das einzig mögliche und zugleich beste Gewissen ist ein schlechtes. Mangelndes, nicht gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Das ist kein Gewissen, das nicht beißt, es ist Gewissenlosigkeit. Josef K., in Kafkas Roman, wird der Prozeß gemacht, weil er ein Gewissen hat. Es kann nur ein schlechtes sein. Warum macht er sich eines? Nur wer es nicht nötig hat, sagt Freud, macht sich eines. Von Natur haben wir alle keines. Da uns kein gutes gelingt, warum machen wir uns eines?

Ja, warum?

Kommt das schlechte Gewissen von der Erbsünde, das heißt, von der Einsicht, daß, um böse zu sein, wir nicht zu sündigen brauchen, daß Gewissen kommt von Wissen, oft nachdem wir gehandelt haben. Doch macht uns das nicht unschuldig: Jetzt wissen wir, das genügt. Wie konnten wir uninformiert, wie wir waren, handeln? Gewiß, wir überlegten, brachen dann aber das Uberlegen ab und schritten zur Tat. So bricht die Politik ab und beginnt der Krieg. Um die Gewaltanwendung kommt keiner herum.

Denkt, wer ein Kind sich wünscht, daran, daß er das dem Leben Geschenkte gleichzeitig zum Tode verurteilt hat? So böse ist Dasein. Doch auch wer auf Kinder verzichtet, vergeht sich gegen das Leben. So wird nichts aus dem guten Gewissen. Wir zweifeln an unserem freien Willen, doch die Natur zwingt uns zu nichts. Kein Mensch muß müssen. Dennoch sind Schopenhauers Anti-Kindehen Narretei. Und eitel ist Pascals Verwunderung darüber, daß links des Rheins Mord heißt, was rechts eine Heldentat ist.

Halten wir es nicht alle mit den Regierungen und nichts von den Kriegsdienstverweigerern, weil sie dem Leben nicht geben, was des Lebens ist? Uns ärgert, wer zehn Kinder in die Welt setzt, genauso wie das Einkindersystem. Unser Gewissen ist vor den Extremen so schlecht wie vor der goldenen Mitte. Und es wird unter den Diktaturen, die uns zu denken verbieten, nicht besser, sowenig wie unter den Demokratien, die es uns lehren möchten. Das Gewissen ist, wie das Leben, unteilbar. Wer es hat, hat es ganz.

Der Mensch, sagen die Atheisten, verantwortet allein die Welt. Unsinn aber sei,' was einst Gottes Stimme war, das Gewissen. Und doch nehmen sie ihren Unsinn ernster als die Gläubigen Gott. Obschon vor dem allgegenwärtigen Auge sich wissend, bringen diese ihr Leben geruhiger hin als jene, die sich ein Letztes abverlangen in einem heroischen Lebenslauf. Als wäre für den Menschen nichts gut genug, für Gott aber bald etwas gut. So waren Götzen immer schon strenger als Gott. Oder sind ihm an Wahrheit am nächsten, die sich am weitesten von ihm entfernt: die verlorenen Söhne? Wie wir es auch halten, ob wir uns von ihm wegdrehen oder zu ihm hin: der Zopf des Gewissens hängt uns hinten.

Aber es könnte auch alles nur Einbildung sein und wir Masochisten, die die Verantwortung für Dinge auf sich nehmen, für die sie nichts können. Sogar die Schuld am Sterben nehmen wir auf uns, den Tod als Strafe, nur um Gott zu retten, seine Allmacht, Allgerechtigkeit, Allgüte. Seine Allungerechtigkeit zu erklären, machen wir uns ein Gewissen aus der Welt, die nicht unsere, die die Seme ist.

So nach entgegengesetzten Thesen lebend, wie Hegel fand, leiden wir an zu vieler Wahrheit, haben ein Gewissen und haben keines. Es kommt auf uns an. Denn wir sind frei. Für das Gewissen oder von ihm frei. Alles entschuldigt uns, erkennen wir uns als Teil der Natur, alles verurteilt uns, tun wir das nicht. Der Heroismus des Atheisten lehrt, daß wir zu stolz sind für eine bloß natürliche Welt; der Zweifel des Gläubigen, daß wir, wie Alfred Polgar es ausdrückte, ohne Flügel an kein Fliegen glauben. Und haben wir etwa Flügel? Glauben freilich heißt, sich dennoch fürs Fliegen befähigt halten. Solche Glaubensmöglichkeit ist im Gewissen aufgehoben.

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