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Demokratie als Schule der Völker

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Ob gewollt oder nicht: Die Perestrojka geht um in Osteuropa. Die baltischen Teilrepubliken des Sowjetreiches versuchen sich — mit unterschiedlicher Intensität — aus dem Griff der Zentralmacht zu winden. Moskau läßt, was sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche und teilweise auch politische Eigenständigkeit betrifft, zunächst einmal gewähren.

Der Vormarsch der Serben brachte dem Vielvölkerstaat Jugoslawien mehr Probleme, als er vertragen kann. Die jüngste, 17. ZK-Sitzung der jugoslawischen Kommunisten hat Fronten zwischen den Völkern nur verhärtet.

In der Sowjetunion Wie in Jugoslawien ist das Verhältnis der Nationalitäten aus dem Gleichgewicht geraten. Ein machtpolitischer Zentralismus — ideologisch als sozialistischer Internationalismus verkauft, womit Nationalitätenprobleme ignoriert werden konnten — setzte sich über ethnische Bedürfnisse brutal hinweg.

Aber gekränktes Selbstwertgefühl bildet nicht selten die Grundlage unkontrollierten Aufbegehrens. Der übergestülpte Internationalismus schuf sich selbst die antagonistische Kraft des Nationalismus: Das dokumentiert einmal mehr das Versagen des realen Sozialismus als Erziehungsinstrument der Völker.

Es spricht für politische Reife, wenn — wie offenbar jetzt in der Sowjetunion — auf Selbstbestimmungsversuche der einzelnen Nationalitäten sensibler reagiert wird.

Nationalistische Stimmungsmacher haben nämlich im heutigen Europa, das seine Lektion eigentlich gelernt haben sollte, noch immer leichtes Spiel. Serbiens Parteichef Slobodan Milosevic ist momentan dafür das beste Beispiel.

Sowohl im Baltikum wie auch in Serbien versuchen nationale Kräfte gegen verkrustete Strukturen anzurennen. Die Frage muß gestellt werden, wann dieser Nationalismus - so notwendig er für das Wohlbefinden der Völker sein mag — gefährlich wird. Fest steht, daß totalitäre Unterdrückungstendenzen — wie die Russifizie-rung in der Sowjetunion oder das jetzige Geschrei in Serbien - andere Nationalismen evozieren.

Ein Ausgleich kann nur mit der Stärkung demokratischer Strukturen erreicht werden, die Liberalität und Toleranz, Offenheit und Dialog fördern. Das hat jüngst der Präsident der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien, Janez Stanovnik, nach einem USA-Besuch zum Ausdruck gebracht. Serbischen Vorhaltungen, er habe in Washington zu deutlich über die Differenzen in Jugoslawien gesprochen, hielt er die Offenheit des demokratischen Westens gegenüber, wo bei Auseinandersetzungen Roß und Reiter genannt würden. In der Tat: Demokratie ist eine vortreffliche Schule der Völker.

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