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Der behauste Mensch

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Angst vor Schlechtwetter: sie beseelt viele Menschen, die jetzt schon an den Sommerurlaub denken und den oft jähen Wetterwechsel in den Knochen, im Kreislauf, im Herzen spüren.

„Die vier Jahreszeiten“ scheinen in klassischer Form nur mehr bei Haydn aufzuklingen - Erinnerung an „die guten alten Zeiten“, an eine „heile Welt“, die, wie Adalbert Stifter immer tiefer noch erschreckend erfuhr, im blauen Himmel Blitze trug, Menschheits-Gewitter riechen ließ: für den Adalbert Stifter, der meinte, daß es für die Menschen, wenn sie überleben wollten, in den kommenden Jahrtausenden darauf ankomme, „Allberührung“ zu lernen. Der Entdecker Adalbert Stifters für die europäische Literatur, Friedrich Nietzsche, spürte riesenhafte Revolutionen sich „auf Taubenfüßen“ nahen.

Revolutionen, Rebellionen, rütteln heute nicht mit Taubenfüßen an die in allen Kontinenten gequälten Menschen, die von Folter, Kerker, Hunger geschunden werden - in dem über dreißigjährigen Weltbürgerkrieg, der sich aus dem Europäischen Bürgerkrieg 1914 bis 1945 entfaltete.

Wie fliehen, wie fliehen vor diesen täglichen blutigen „Veränderungen“? Wie fliehen vor dem Blut-Sturz, der auch in Europa täglich wieder einzubre-' chen droht?

Es ist politisch verständlich, patriotisch sinnvoll und der Wirtschaft nützlich, daß „Urlaub in Österreich“ immer mehr modern wird: sich Ein-Hau- sen im Mühlviertel, im Waldviertel, in der Steiermark, ja, natürlich auch in den blitzblauen Ansichtskarten-Som- merfrischen, die weltweit werben.

Sich Ein-Hausen. In den fünfziger Jahren gab es ein modisches Wort: „Der unbehauste Mensch“. Das war ein Ausdruck für existentielle Entwurzelung, Existenzangst, Blick auf Sartre und Camus, und das, was eben überlebt wurde: die Enthausung von Millionen Menschen, die eben vertrieben worden waren. Und die Gegenwart der Ruinen: Europa als eine Ruinenlandschaft.

Das Sich-Einhausen wurde, faszinierend und erschreckend schnell, in der Wirtschaftswundergesellschaft der Bundesrepublik Deutschland vorbildlich betrieben. Österreich folgte nach, zog kräftig mit. Wir leben heute noch in dieser eingehausten Gesellschaft: jeder für sich, und der Staat für alle. Diese Maxime, der neue kategorische Imperativ, faltet sich in einem breiten Panorama aus, das von der Zweitwohnung und Zweithaus-Idylle bis zum kleinen und großen Verbrechen reicht.

Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, „diese Zustände“ zu verteidigen, wohl aber, aufmerksam zu machen: sie sind auch eine Anzeige für die Tatsache: sehr viele Menschen trauen der Zukunft nicht und trauen der Gegenwart immer weniger und versuchen eben, es sich zu „richten“. Denn: „Was man hat, das hat man.“

Die vielen nun, die es sich nicht oder eben nur in bescheidenem Maße „richten“ können, hausen sich in einer Immobilität, in einer geistigen, seelischen

Unbeweglichkeit ein, die auf Überlebende des Großen Krieges und auf wache junge Menschen erschreckend, empörend, zur Resignation, zur Erhebung reizend, wirkt.

Je lauter der Lauf der Welt, je unruhiger die Zeiten, je stärker sich ein großer Klimawechsel ankündigt - weltweite Veränderungen liegen in der Luft -, umso „ruhiger" bewegen sich viele Menschen in unseren Landen. Die äußere Mobilität zementiert die innere Unbeweglichkeit ein: eine tiefe Starre.

Verstarrung in den Seelen! So nannte man in früheren Zeiten das dynamische Energiezentrum in der leib-seelischen Einheit „der Mensch“. Eine gewisse Kälte im Blick, die sich gerne in „Freundlichkeiten“ einkleidet, aber auch kurze Aggressivitäten nicht scheut.

Diese Immobilität, täglich auch von unseren Politikern erlebt, rechtfertigt ihre Scheu, ihre Angst, an Strukturän derungen auch nur zu rühren, geschweige denn, sie anZupeilen. Bereits Andeutungen im Wort mobilisieren Horden von Gegnern, gerade auch in der eigenen Partei.

Keine Wandlung in Sicht: nicht in der Politik, nicht bei uns, in den Massen der überwältigenden Mehrheit unserer Bevölkerung. Nach wie vor regiert da also der kategorische Imperativ: Jeder für sich, und der Staat für alle.

Wir sind eine Republik von Stachelschweinen. Jedes Stachelschwein verteidigt seinen Futtertrog, sucht aus anderen Trögen zu „naschen“ und bildet, sich mit den Stacheln Abstand haltend, einen Schutzverband, der die Erhaltung der eigenen Freßzone mit allen Stacheln nach allen Seiten verteidigt. „Bünde“ also. Und „Verbände“.

Interessenverbände sind sehr sinnvoll, auch notwendig. Wenn sie aber sich selbst über den Kopf wachsen, ruinieren sie, auf Dauer, sich selbst. Und den Staat.

Keine Wandlung in Sicht. Wandlung ist ein Fremdwort, das selbst Kirchenmänner nur en passant in den Mund nehmen. Bleibt das Sich-Einhausen in den Schlechtwetterlagen, in denen nach regenfreien Tagen, Wochen, Lebens- Zeiten gesucht, gejagt wird.

Damit ist gegeben: Kontinuität des Gestrigen, des „Ewig-Gestrigen“. Es gibt erstaunlich viele Menschen, auch in Österreich, in denen in einem halben Jahrhundert und mehr ihr Menschsein und ihr „Gott“ nicht gewachsen sind. Und es gibt sehr viele „kalendarisch“ junge Menschen, die sich bereits institutionell einrichten in einem „Haus“, in dem sie sich, ihre Person, nicht ändern - nicht ändern, nicht wandeln werden, wenn „es eben doch so weitergeht...“

Nun doch noch diese Beobachtung: es gibt in Österreich heute wieder Menschen, junge und kalendarisch nicht mehr junge, wohl aber geistig und seelisch junge Menschen, die mitarbeiten wollen, um nicht nur Regenmäntel und Faltboote für Wildwasserfahrten auszurüsten, sondern Strukturwandel vorzubereiten.

Diese Menschen sind, in Spurenelementen, in allen Berufen, Generationen, Parteien präsent. Sie miteinander zur Auseinandersetzung, zur Zusammenarbeit zu bringen, sollte nicht zuletzt von einer Publizistik wahrgenommen werden, die täglich der Pressung, Erpressung und Engpaßführung ausgesetzt ist.

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