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Der Zeitpuls fliegt, wo er will

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Es ist wahrscheinlich schwierig geworden, das, was die Menschheit vorwärtstreibt, dort zu suchen, wo der Zeitpuls fliegt, da dieser sich als höchst unzuverlässig und launisch erwiesen hat und fliegt, wo er will, im Plagiat vielleicht des Geistes, dessen Wehen ebenso fragwürdig geworden ist

Die Entwicklung der letzten zehn Jahre hat jedenfalls gezeigt daß man es aufgeben muß, zu glauben, man könne eine Theorie haljen und die Praxis danach ausrichten. Hat man noch vor nicht allzu langer Zeit Ideen emstgenommen, so entsprach es dem fortschrittlichen Geist, diese zu desavouieren, bis nichts mehr davon übrig blieb. Kommunisten galten, wenn sie sich so verhielten, als progressiv. In der Zwischenzeit hat sich die Lage geändert. Die der Ortho-

doxie entfremdeten Altkommunisten blicken staunend auf das, was sie im Handumdrehen in das konservative Lager abdrängte. Manche nicht ohne Größe, wie z. B. Emst Fischer. In den vorliegenden Essays be-

schäftigt sich der Autor mit der Situation der Kunst in der Gegenwart. Der Beweis, daß der kritische Geist in welcher Phase seines geistigen Ambiente auch immer Auseinandersetzungen provoziert ist Ernst Fischer gelungen. Trotzdem wird er schon wegen des Vokabulars, das sich rund und schön anbietet, wie die Fassade eines barodcen Bürgerpalais, der theoretischen Konfrontation mit der linken Kunsttheorie zu entsagen haben.

Eine kunsttheoretische Abhandlung, in der nicht vom Kunstproduzenten oder vom Überbau die Rede ist, wird es sich gefallen lassen müssen, im Gesprächsfeld von Konformisten und solchen, die nichts anderes mehr werden können, zu bleiben.

Wer, dessen nicht achtend, die Begegnung eines wachen Menschen mit den Phänomenen der Gegenwart, in einer diesem Menschen entsprechenden und unwiederholbaren Eigenart, an sich schon interessant findet, der wird, selbst bei divergierender Geisteshaltung, die Interpretationen Ernst Fischers schätzen. Gerade weil das persönliche Engagement des Autors stark spürbar ist. Manchmal aber geht der metaphorische Glanz der Sprache schwer zu deuten sind, üljer Erscheinungen hinweg, die eben gerade auf Grund der Inadäquadheit der Sprache, schwer zu deuten sind. Eine Formuliemng wie „Das alte Haus der Sprache ist unbewohnbar geworden" ist zwar sehr schön, steht aber sicher in der Wahl des Ausdrucks dem zeitgemäßen Lebensgefühl fremd gegenüber. Vielleicht auch deshalb, weil es immer weniger Häuser giibt und immer mehr Wohnmaschinen. Die Bemerkung, Becketts Dichtung steige auf zum emsigen Himmel unseres Zeitalters, wie ein gloria in excelsis, wird dem Leser vielleicht einige fromme Schauer über den Rücken jagen, steht auch in einem richtigen Verhältnis zur Größe dieses Dichters, bleibt aber doch in der Pracht des von eigener Hand gemalten Gemäldes stehen. Vor allem deshalb, weil Becketts Dichtung jede Art von Frömmigkeit, die bei den Atheisten oder den Absurden immer noch da ist, ausschließt, weil bei Beckett ja nicht einmal mehr die noch immer metaphysische Aussage, daß das Leben keinen Sinn bat, relevant ist. Schrecken und Lustigkeit in der wohl eigenartigsten Mischung ergeben sich aus der Reduzierbarkeit des Individuums auf seine biologische Funktion.

Daß der Autor für die Entwicklung der Kunst im Osten wie im Westen schwarz sieht, zeugt von einer gewissen Instinktsicherheit. Die Bejahung jedweden Experiments ist ein Ausweg. Man wird aber der Krise, in der sich der Kunstschaflende heute befindet, in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, als man das bisher getan hat.

ÜBERLEGUNGEN ZUR SITUATION DER KUNST. Von Ernst Fischer. Diogenes Taschenbuch. 121 Seiten.

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