7050231-1990_49_09.jpg
Digital In Arbeit

Deutschland - heidnisch Vaterland?

Werbung
Werbung
Werbung

Wie bereits gemeldet (FURCHE 18/1990), hat sich die Konfessions-struktur im vereinten Deutschland drastisch verändert. Während in der Bundesrepublik früher die Katho-liken leicht die Mehrheit besaßen, sind jetzt die Protestanten - aller-dings auch nur leicht - in der Über-zahl. Doch hierin liegt nicht das Problem. Erschreckend am stati-stischen Befund sind die "Sonstigen" und hier vor allem die Konfes-sionslosen. Sie dürften jetzt bereits auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mehr als zwei Drittel der Be-völkerung ausmachen, so daß sie insgesamt, bezogen auf das ganze Bundesgebiet, mit rund 30 Prozent (Bundesrepublik früher alleine nur etwa 15 Prozent) anzusetzen sind.

Damit ist das Gebiet der ehema-ligen DDR beziehungsweise der neuen fünf Bundesländer, wie sich der Sprachgebrauch jetzt langsam einbürgert, als neuheidnisch-säkularisiertes Gebiet zu betrachten. Inoffiziellen Schätzungen zufolge soll es derzeit weniger als eine Million Katholiken und weniger als drei Millionen Protestanten in diesem Gebiet mit rund 16 Millionen Einwohnern geben.

Die Reputation, die die beiden Kirchen während des letzten Jahres durch ihre entschiedene Haltung im Umwälzungsprozeß erhalten haben, dürfte, was die Kirchlichkeit der Bevölkerung betrifft, völlig wertlos gewesen sein. Im Gegenteil, die Tendenz zur Konf es-sionslosigkeit steigt weiter. Durch eine sicherlich unabsichtliche Fehlinterpretation über das Ausmaß der Kirchensteuer bilden sich Schlangen bei den Gemeindeämtern, um den Austritt aus der Kirche zu erklären. Mit der Wiedervereinigung gilt auch im Gebiet der ehemaligen DDR das gültige Staatskirchensystem, das heißt, die bislang geübte Praxis der Kirchensteu-, ereinhebung durch das Finanzamt.

In der Regel werden neun Prozent der jährlichen Lohn- und Einkommenssteuer den Kirchen abgeführt. Weite Kreise in der DDR meinten irr-tümlich, sie müßten neun Prozent ihres Einkommens an Kirchensteuer abführen. Aufgrund der mageren Einkommenssituation haben nun viele aus Angst davor ihren Austritt erklärt, vor allem jene, deren Bindung zur Kirche ohnedies nur mehr symbolisch war. Nur mühsam gelang die Aufklärung, daß sich die neun Prozent auf die Steuer beziehen, und daß diese wegen der geringen Einkommenssituation ohnedies sehr mager ausfallen dürfte. Der größte Teil der Bevölkerung in der ehemaligen DDR hätte gar keine oder nur eine sehr geringe Kirchensteuer zu bezahlen gehabt.

Die Auswirkungen sind vor allem für die Protestanten verheerend. Sie haben ihren volkskirchlichen Charakter in Ostdeutschland faktisch verloren. Welche Folgen das unter anderem hat, möge nur ein Beispiel zeigen. In einem kirchlich homogenen Gebiet werden die Religionsstunden in den Schulen mühelos in den Stundenplan integriert. Aufgrund der konkordatä-ren Lage wird nun auch in Ostdeutschland der Religionsunterricht eingeführt. Dieser kann aber aufgrund der geringen Zahlen nur mehr an die Randstunden gelegt werden, weshalb sich noch mehr Schüler aus Bequemlichkeit abmelden werden.

In führenden Kreisen beider Kirchen in Westdeutschland beobachtet man diese Entwicklung mit großer Sorge. Abgesehen davon, daß die ostdeutschen Kirchen aufgrund der geringen Kirchensteuereinnahmen weiterhin oder sogar noch mehr am Tropf der westdeutschen hängen werden, hat man Angst, daß diese Entwicklung weg von der Volkskirche auch im Westen um sich greifen könnte. Das wäre pastoral wie auch staatskirchenrecht-lich für beide Kirchen verheerend. An diesem Beispiel wird nur allzu deutlich, daß die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht nur eine ökonomische Herausforderung ist, sie ist vielmehr eine geistig-moralische, der sich beide Kirchen stellen müssen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung