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Wie lebt man als Christ im Lande Luthers?

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Sagen wir Deutschland - meinen wir die Bundesrepublik. Verdrängen wir damit aus unserem Bewußtsein, daß es noch ein zweites Deutschland gibt? Wir nennen es Ostdeutschland, im Land selbst darf man nur „Deutsche Demokratische Republik” sagen. Es ist etwas Eigentümliches an diesem Land.

Wie geht es in diesem Land jenen Gruppen, die nicht zu den Vorzugsschülern der Republik gehören, den Christen? In diesem Land liegen die für die deutsche Reformation bedeutungsvollen Orte und Städte. Kann man „im Lande Luthers” noch als Christ leben? Man kann, freilich als engagierter Christ bisweilen unter schwierigeren Voraussetzungen als andere Staatsbürger (der angestrebte Lehrplatz ist schon vergeben, der gewünschte Studienplatz schon besetzt) und als Pfarrer am Existenzminimum.

Auch in der klassenlosen Gesellschaft gibt es solche, die gleicher sind als andere; das zeigt sich nicht nur in den Zügen, bei denen es auch in der DDR noch immer eine 1. und 2. Klasse gibt.

Die Kirchen in der DDR bekommen grundsätzlich keine staatliche Unterstützung. Sie sind auf die freiwilligen Kirchenbeiträge ihrer Mitglieder und auf ausländische Hilfe angewiesen. Lediglich die Renovierung kulturell wertvoller Kirchengebäude wird finanziell vom Staat getragen - mit der einzigen Auflage, die Kirchen für Besucher offenzuhalten. Freilich ge schieht das nicht, um die Kirchen zu fördern, sondern um den Fremdenverkehr anzukurbeln, denn Touristen bringen Devisen - aber immerhin! Daß auch niemand die eindrucksvollen alten Kirchenbauten mit einem Museum verwechselt, dafür sorgt meist das Hinweisschild: „Sie befinden sich hier in einem Gotteshaus und nicht in einem Museum!”

Kirchen aus der Zeit nach 1945 sind selten. Solche Kirchen verdanken ihre Entstehung dem Ideenreichtum des Pfarrers und der Gemeindemitglieder, wodurch es irgendwie gelang, eine Baubewilligung und Baumaterialien zu erhalten. In diesem Punkt scheint sich die Situation zu bessern: der Staat erwägt zur Zeit, in Neubaugebieten auch den Bau einer Kirche fix einzuplanen.

Aber es geht auch anders: Um große Neubaugebiete, in denen oft 30.000 meist jüngere Menschen neue Wohnungen bekommen, kirchlich versorgen zu können, stellt man auf einer Wiese einen alten Schaustellerwagen auf, gestaltet ihn in Eigenregie um und hat so einen Platz für 80 Gottesdienstbesucher. Sind es mehr Leute, werden weitere Gottesdienste gehalten, im Sommer wird die Wiese mit- einbezogen. Man sieht: Wo das Geld oder andere Voraussetzungen fehlen, kann der „Geist” aushelfen.

Gottesdienstankündigungen und Wandtafeln an Kirchen oder am Pfarrhaus sind erlaubt, ebenso Kirchenzeitungen. Freilich muß man wissen, was man schreibt. Nicht wegen der Zensur - die gibt es nicht -, aber ein Streik könnte die Herausgabe einer Nummer verhindern. Man hat daher ein Gefühl dafür entwickelt, was man schreiben kann und was man lesen muß.

Religionsunterricht an den Schulen gibt es natürlich nicht, dafür aber den „Ideologieunterricht”. Die Kirchengemeinden halten den Religionsunterricht in eigenen Räumen ab. Die Räume dafür sind klein - man schätzt die Lage realistisch ein: nur ein kleiner Prozentsatz der Jugendlichen wird erreicht. Auch die Konfirmation lebt ein Schattendasein. Drei bis fünf Konfirmanden in Gemeinden von 30.000 Einwohnern sind keine Seltenheit. Dafür gibt es staatlicherseits das Angebot der „Jugendweihe” - zufällig zu Ostern, dem früheren Konfirmationstermin.

Gemeindeaktivitäten sind vorhanden und werden genützt. Ihr Bogen spannt sich von Bibelkreisen, Predigtvorbereitungsgruppen, Seniorenklubs, Basaren, bis hin zu Kinderkreisen.

Was noch auffällt: Pfarrermangel - ein Pfarrer muß oft bis zu drei Gemeinden versorgen. Sehr viele Frauen- auch verheiratete -, die als Pastorinnen tätig sind, und verhältnismäßig viele Diakone und Katecheten in der Gemeindearbeit. Noch immer gibt es fünf theologische Fakultäten und drei kirchliche Hochschulen in der DDR.

Alles in allem sehen sich noch rund 40 Prozent der Bevölkerung als Christen, von denen allerdings höchstens zehn Prozent als aktive Christen und nur drei Prozent als engagierte Christen bezeichnet werden können.

Für uns aber gibt es keinen Grund, besonders gerührt oder wegen unserer Verhältnisse besonders erleichtert zu sein. Sicher, wir haben es in vielen Beziehungen leichter, aber ist unsere Situation deswegen um so vieles besser?

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