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Das Röntgenbild einer Großstadtpfarre

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Die Wiener Sfelle,des „Internationalen katholischen In,s.tjtuts für kirchliche Sozialforscruig“ legt in ihrem 25. Bericht eine Bestandsdiagnose einer Wiener Pfarre vor — es ist St. Johann Nepomuk in der Leopoldstadt —, die als Testfall genommen werden kann dafür, was die Statistik der Bekümmerung um die Seelen an Hilfen zu bieten vermag. Es sei gleich mit Genugtuung ausgesprochen, daß sich diese Arbeit, für die Dr. Erich Bodzenta zeichnet, sowohl der möglichen Fehlerquellen bewußt ist als auch in den Folgerungen sich sauber darauf beschränkt, was auf Grund einer zahlenmäßigen Bestandsaufnahme einer geistig-seelischen Societas ausgesagt werden kann, mit einer löblichen Ausnahme da, wo sie nämlich feststellt, daß der Grund für den beträchtlichen Zuzug zum Gottesdienst in St. Johann aus den Nachbarpfarren in erster Linie der „vom apostolischen Eifer getragenen Meßgestaltung“ in dieser Kirche zu suchen Sei.

Bedenken könnte man vom Standort einer religiösen Grundhaltung schon anmelden an der Methode, mit der man zu den Resultaten kam: mit einer Enquete während des Gottesdienstes! Zweifellos ist dies, von der Vorbereitung abgesehen, der rascheste und, wenn man will, der mühesparendste Weg: ein Priester verkündet nach der Predigt von der Kanzel, daß allen Andächtigen nun eine Karte vorgelegt wird mit Fragen nach dem Geburtsjahr, Geburtsort, Geschlecht, Familienstand, Anschrift und Beruf. Die vorgeschulten Helfer übergeben darauf jedem Kirchenbesucher Karte und Bleistift. Es wird ausdrücklich erklärt, es sei niemand gezwungen, die Zählkarte zu beantworten. Die Profanation am heiligen Ort und innerhalb der heiligen Handlung könnte aber gerechtfertigt sein, wenn die Ergebnisse nicht anders erreicht werden könnten, und wenn sie eine lebenswichtige, vielleicht notwendige Vorbedingung für die Seelsorge erstellen. Auch daß diese Erhebung nur zweimal im Kirchenjahr veranstaltet wird, mag als Entlastung gelten, daß Kirchenbesucher, die doch zum Gebet und zur Mitfeier des heiligen Opfers gekommen sind, durch eine Enquete, dirigiert von einem Priester auf der Kanzel und durchgeführt von einem Team an Helfern, überfallen und in eine Zwangslage versetzt werden. Durch die betonte Freiwilligkeit und Anonymität der Beantwortung wird das Bedenken nicht hinfällig. Der Vorgang könnte gerade Menschen, die aus einem langverhaltenen religiösen Antrieb und vielleicht unter Hemmungen wieder einmal zur Kirche kamen, auch wieder verjagen. Ja für die Mentalität des großstädtischen Kirchen-

besuchers hat gerade das Alleinsein, mit Gotf und das Unbekanntsein unter ü&i* MeÄscherf ringsum, was durchaus nicht die Mitfeier (Singen und Mitbeten) stören muß, einen eigenen Anreiz. Da plötzlich weiß er sich von wenn auch noch so netten jungen Menschen umstellt, die ihm die Abgabe eines, versteht sich, anonymen „Nationales“ aufnötigen. Und er reißt aus. Die Pfarre und weit weniger noch die Gottesdienst feiernde Gemeinde ist keine „statistische Kategorie“. — Ich zweifle aber nicht, daß die Veranstalter diese und ähnliche Einwände sich selbst vorgelegt und Gründe für ein Dennoch haben.

Wäre die Pfarre eine richtige Gemeinschaft von Menschen, Gemeinschaft im Sinne der Grundformen von F. Tönnies, in der sich die einzelnen Gläubigen als Glieder einer lebendigen Einheit wüßten und fühlten, die im Gottesdienst das Geheimnis der aus dem Wasser Wiedergeborenen feiern, würde sich niemand an der Zählung Stoßen. Dann wäre sie freilich auch überflüssig. Die Rechtfertigung einer Zählung in dieser Form liegt nur in ihrer seelsorglichen Notwendigkeit. Selbst die zweifellose Bedeutung genauer Zahlen für eine überpfarrliche Neuordnung wäre meines Erachtens nicht Grund genug.

Ueber all diese Nachdenklichkeit hinweg wollen wir uns aber freuen über die Genauigkeit der an sich nicht erfreulichen Hundertsätze, wenn sie auch in dieser einen Modelluntersuchung nur für diesen Fall gelten. Nennen wir einzelnes: 3,7 Prozent verweigerten die Ausfüllung der Karte oder fertigten sie ungenügend aus. Es gab Andächtige, die mehrere Messen mitfeierten. Eine beträchtliche Anzahl kam aus anderen Pfarren. Man folgerte aus ihren Anschriften, daß die größere Nähe dieser Pfarrkirche oder der bequemere Weg dafür maßgebend sei. Die obengenannte und geliebte Anonymität vor den Menschen, wenn man mit Gott spricht, mag mitentscheiden. Die Pfarre St. Johann zählt 10.645 Katholiken (davon 4695 männliche, 5950 weibliche). Zählt man nach einer beiläufigen Schätzung die Kleinkinder, die Alten, Kranken, beruflich oder sonst Verhinderten und die von der Pfarre Abwesenden mit 12 Prozent ab, dann hätte man mit den 1726 Mitfeiernden in allen Messen (m. 603, w. 1133), den runden Hundertsatz von 20 Prozent; zählt man diese nicht ab: 13,4 Prozent (m. 9,8 Prozent, w. 16,2 Prozent). Nicht in Rechnung gesetzt sind in dieser Zählung des Pfarrgottesdienstes die vielen Besucher der Klosterkirchen.

Der große Vorzug dieser Zählkarten bringt auch ans klare Licht der Hundertsätze, welche

Messen bevorzugt werden, auch die Alterspyramide der Besucher, ihre Herkunft, den Familienstand und stellt dabei die „große Absenz“ der 18- bis 45jährigen (nur 6 Prozent aller) fest; aber auch, daß die Geschiedenen mit 3,6 Prozent anwesend sind. Nur jeder 17. verheiratete Mann und jede 10. verheiratete Frau kommen zur Messe. Das ist wohl die erschütterndste Einsicht dieser Befragung. Man hat aber auch den „Säumigkeitsquotient“ der Zuspätkommenden und früher Weggehenden errechnet. Er selbst ist fraglich. Aber nicht fraglich ist die Feststellung, daß dieser zunimmt, je „nobler“ das Viertel ist. Die Erkundigung nach dem Beruf macht offenbar, daß Mittel- und Hochschüler die relativ meisten Kirchenbesucher stellen. Am schlechtesten steht es bei den Arbeitern. Sie haben die ein Jahrhundert lange Verhetzung noch nicht überstanden. Auffällt der geringe Hundertsatz der Männer, die einen selbständigen Beruf ausüben (nur 5.2 Prozent). Die Missionierung der neuen Mittelschichte der Bevölkerung ist nicht weniger dringend als die der Arbeiter. Es handelt sich ja wohl auch in der Mehrzahl um Menschen, die aus der Arbeiterbevölkerung, wenn man so sagen darf, aufgerückt sind.

Die Statistik wird fraglicher, wo es um eine verläßliche Aufstellung der Kommunikanten geht. Aber auch diese muß gewagt werden. Auch die „saisonbedingten“ Schwankungen des Kirchenbesuchs (Kirchenjahr, Schule, Ferien) und anderes werden erforscht.

Zweifellos ist, was freilich jeder Pfarrer bisher auch gewußt hat und nun durch genaue Zahlen bestätigen wird: 1. Die „Feminisierung“ des Kirchenvolkes. Es kommen in dieser Pfarre fast doppelt so viele Frauen als Männer zum Gottesdienst. Vergleichsweise kann gesagt werden: Je ländlicher das Milieu ist, desto mehr steigt der Hundertsatz der Männer. Schon in der Stadt St. Pölten ist das Verhältnis 3:2. 2. Die „Verkin-dung“ und „Vergreisung“. Jugend und alte Leute stellen im Verhältnis weit mehr Kirchenbesucher als die von der Arbeit Gejagten und Arbeits-miiden und die vom Lebenshunger bedrängte Mittelschicht des Kirchenvolkes.

Das ist das Zahlenbild einer. Wiener Pfarre. Dazu einer, die in guten Händen ist. Da (nach dieser Studie) der durchschnittliche Hundertsatz der Kirchenbesucher in ihrem Verhältnis zur Zahl der Katholiken in ganz Wien 23 Prozent ist, muß es hier Pfarren geben, vielleicht viele Pfarren geben, die, an Prozentsatz und Zahl gemessen, besser daran sind.

1 jDal laRlnüJberldie inneren Gründe der Abwesenheit und der Anwesenden nichts, und noch weniger über den religiösen Stand des Kirchenvolkes selbst etwas aussagen können, ist kein Grund, einer solchen Enquete und ihren Veranstaltern nicht dankbar zu sein. Sie haben getan, wofür sie zuständig sind. Und sie haben sich, es. ist Anlaß, das eigens zu rühmen, an diese ihre Zuständigkeit gehalten. Ein Röntgenbild weist nur dunkle Flecke auf. Die Krankheit muß erst erkannt werden.

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