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Leere Kirchenbänke

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Die Zahl der Austritte evangelischer und katholischer Christen aus ihren Kirchengemeinden, in denen 1961 ungefähr 54,186.100 Mitglieder lebten, von denen 29,400.000 der evangelischen und 24,786.100 der katholischen Konfession angehörten, ist in der Bundesrepublik seit Anfang 1969 sprunghaft angestiegen. Zu den beiden Konfessionen rechneten sich 1961 96,2 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik. Eine vollständige Statistik beider Kirchen über diese stärker gewordene Tendenz liegt bis heute noch nicht vor. Sie befindet sich jedoch — zumindest für die evangelische Kirche — in Bearbeitung. Eine ungefähre Vorstellung kann man sich aber an Hand der von den einzelnen evangelischen Landeskirchen und einigen katholischen Diözesen bekanntgegebenen Zahlen machen. Sie zeigen, wie die Kirchenleitungen mitteilen, einen Trend zur Kirchenflucht Zwar rangieren die Austritte aus der evangelischen Kirche vor denen der katholischen Kirche. In Nordrhein-Westfalen, dem größten deutschen Bundesland, wurden 1968 rund 11.300 Austritte registriert gegenüber 7903 im Jahre 1967. Auch die katholische Kirche beklagt unverhältnismäßig große Einbußen. In den ebenfalls in Nordrhein-Westfalen liegenden Erzbistümern Köln und Paderborn sowie in den Bistümern Aachen, Münster und Essen erklärten 1967 7174 Katholiken ihren Austritt aus der Kirche. Für das Jahr 1968 wurden Zahlen bisher nur in Einzelfällen bekanntgegeben.

„Kein inneres Verhältnis mehr“

Oenau untersucht wurden bisher die Kirchenaustritte im evangelischen Kirchenkreis Düsseldorf, der zur Landeskirche Rheinland gehört. Diese Untersuchung ist insofern besonders interessant, als sie nicht nur die Zeit vom 1. Jänner 1969 bis zum 30. November 1969 umfaßt, sondern auch die Gründe dieser 1436 Kir-

chenaustritte ermittelt hat. Am meisten vollzogen den Kirchenaustritt Angestellte und Selbständige, gefolgt von Studenten und Schülern. Etwa 40 Prozent erklärten, sie hätten kein inneres Verhältnis mehr zur Kirche. Viele monierten den „Linksdrall“ einer Reihe von kirchlichen Würdenträgern, kritisierten das Verhalten der Kirche im Entwicklungsdienst oder fanden, daß sich die Kirche zuviel mit nichtkirchlichen Fragen beschäftige. Anderen wieder war die Kirche „zu konservativ“. Daß der Kirchenaustritt vor allem die jüngeren Jahrgänge erfaßt hat, geht auch aus Zahlen hervor, die aus der katholischen Diözese Mainz bekannt wurden. In diesem Bistum, das etwa 870.000 Personen umfaßt, traten 1967 1160 und 1968 1293 Personen aus der katholischen Kirche aus. Fast die Hälfte davon ist jünger als 30 Jahre. Eine deutliche Zunahme der Austritte war in städtischen Bezirken zu verzeichnen. Bereits 1967 hatte ein demoskopisches Institut ermittelt, daß 43 Prozent der erwachsenen Bundesbürger in Gemeinden unter 2000 Einwohner „starke religiöse Bindungen“ haben - aber nur 8 Prozent aller Hamburger und 12 Prozent aller Westberliner, also der Millionenstädte. Diese Angaben entsprachen damals nicht dem Verhältnis zur jeweiligen Kirchenmitgliedschaft, sondern dem wirklichen Kirchenbesuch. In der Tat bieten die Kirchen in der Bundesrepublik seit einiger Zeit ein ungewohntes Bild: Beim sonntäglichen Gottesdienst bleiben — vor allem in evangelischen Kirchen — die meisten Bänke leer.

Die neuesten Erkenntnisse über den Personenkreis der Austritte decken sich zu einem wesentlichen Teil mit einer Untersuchung, die das Kirchenstatistische Amt der evangelischen Kirche Deutschlands über die soziologischen Gruppen der ausgetretenen Kirchenmitglieder anstellen

ließ. Von insgesamt 42.300 Ausgetretenen Kirchenmitgliedern 1967 wurden etwa 15.300 durch die Untersuchung erfaßt, 8700 Männer und 6600 Frauen. 40 Prozent der Ausgetretenen waren bis zu 30 Jahre alt, 38 Prozent 31 bis 50 Jahre und 22 Prozent waren älter als 50 Jahre. Die Untersuchung schlüsselte die Kirchenmitglieder nach Berufsgruppen auf: 29,9 Prozent Angestellte, 28,2 Prozent Arbeiter, 20,3 Prozent Hausfrauen, 7 Prozent Selbständige, 5,2 Prozent Beamte, 3 Prozent Schüler und Studenten sowie 1,3 Prozent Rentner.

Am meisten in den Großstädten

Von der Kirchenflucht sind die beiden Kirchen gleichermaßen betroffen. Das gilt vor allem für die Großstädte in allen Teilen der Bundesrepublik. So stieg 1968 die jährliche Austrittsrate für die protestantische Kirche in West-Berlin um 70 Prozent in Bremen um 80 Prozent, in Hamburg um fast 50 Prozent, in Frankfurt um 46 Prozent, in Stuttgart um 40 Prozent und in Hannover um 38 Prozent. Um 100 Prozenit stieg die Zahl der Kirchenaustritte dagegen in Düsseldorf und in dem Lederwarenzentrum Offenbach in Hessen sogar um 120 Prozent. Von katholischer Seite liegen zwei Angaben aus süddeutschen Großstädten vor. Demnach war in München ein Jahresanstieg der Kirchenaustritte um 100 Prozent und in Mainz um 50 Prozent festzustellen.

Evangelische Kreise rechnen damit, daß die Austrittsquoten von 1969 die Höchstzahlen aus der NS-Zeit nicht erreichen werden. Man nimmt aber an, daß sie die des Jahres 1967 empfindlich übersteigen werden. Auf katholischer Seite fällt die steigende Zahl von Kirohenaustritten von Ausländern auf. So kommen in Hamburg 10 Prozent der Abmeldungen von ausländischen Katholiken.

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