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Dialog fürs Uberleben

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Unterschwelliger Antisemitismus kommt bei gewissen Anläßen leicht wieder hoch. Humanität hat da manchmal keine Chance. Dialog und Toleranz überwinden den Haß.

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Unterschwelliger Antisemitismus kommt bei gewissen Anläßen leicht wieder hoch. Humanität hat da manchmal keine Chance. Dialog und Toleranz überwinden den Haß.

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Wenn ich ein Prediger wäre, würde ich vielleicht versuchen, etwas über die Ethik der Sprache zu sagen. Als ganz gewöhnlicher Mensch möchte ich nur berichten, wie sehr es mich stört, wenn Menschen tagaus, tagein Wörter gebrauchen, die so abgegriffen sind, daß sie ihr ursprüngliches Profil verloren haben. Ich denke an Wörter wie Toleranz, Dialog oder Holokaust.

Für viele Menschen ist Toleranz gleichbedeutend mit Großmut und Liberalität. Schaut her, wie tolerant ich bin! Da gibt es Leute, die gesellschaftlich weit unter mir stehen oder vielleicht einer Kultur und Tradition angehören, die sich weit unter dem Standard meiner eigenen befindet, und doch dulde ich sie; weil es unter feinen Leuten als Tugend gilt, höflich zu sein.

Für wieder andere gilt Toleranz als aufgeklärte Menschlichkeit dem Mitmenschen gegenüber; genauer: dem einzelnen Menschen — losgelöst vom Kollektiv, zu dem er notgedrungen gehört.

Der Mensch als Individuum, losgelöst von den — oft als negativ empfundenen — Eigenheiten seiner Kultur, Religion, Gesellschaft, Klasse. Er ist mein Nächster im Sinne meiner Wahl. Er steht mir nahe, weil er, wie ich,' Beethoven liebt oder gern Ski fährt; nicht der Nächste, der neben mir in der Straßenbahn sitzt und der mir überhaupt nicht gefällt, oder der Nächste, der hilfesuchend an meiner Tür steht und den ich lieben sollte.

Könnte Toleranz nicht etwas ganz anderes bedeuten? Etvwps Mutiges, Aktives und doch nichts Unnützes?

Etwa statt Duldung des anderen aus vermeintlichem Großmut „Toleranz” aus Dankbarkeit für dessen Existenz als Andersartiger, durch den sich meine eigene Erfahrung menschlicher Kultur und Möglichkeit erweitert; durch den sich auch ein Zurückkommen zu dem eigenen Verlorenen oder Vergessenen ergibt; als ein Wachsen auf der Grundlage des durch den anderen wiederentdeckten Eigenen über das Eigene hinaus?

Wie ist es mit dem Begriff „Dialog”? Es scheint, daß er sich im heutigen Alltag auf besondere, ja ungewöhnliche Ereignisse bezieht. Ich denke an den sogenannten Dialog der Großmächte; jener also, die normalerweise nicht mit-, sondern höchstens gegeneinander oder übereinander reden; wobei sie meist das sagen, was Experten oder Berater vorbereitet haben.

Freilich sprechen wir auch vom christlich-jüdischen Dialog der Gesellschaften für die christlichjüdische Zusammenarbeit.

Diese Gesellschaften wurden nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs von Menschen guten Willens ins Leben gerufen, die glaubten, daß man miteinander reden müsse, damit so etwas nicht mehr passieren könne. Man trifft sich - meist handelt es sich um Vertreter der älteren Generation — und nimmt Absichtserklärungen von Regierungsvertretern entgegen, hört diesem oder jenem aufklärenden oder warnenden Vortrag zu. Ein Dialog ist es wohl nicht, eher ein erbauendes, dem Alltag fremdes Seid-nett-zuein-ander.

Ich meine, daß es keinen Dialog geben kann, wo der einzelne immer selbstgerecht oder selbstgefällig, jedenfalls selbständig bleibt. Er kann dann weltweite Kommunikationssysteme aufbauen, aber was er kommuniziert oder vermittelt, sind lediglich Fakten oder Daten.

Im Dialog aber genügen weder Fakten noch Meinungen. Die Teilnehmenden müssen sich selbst einbringen, ihre „Existenz”, die von etwas Allgemeinerem, Transzendentem abhängig ist.

„Holokaust” ist nicht nur wie „Toleranz” oder „Dialog” ein abgegriffenes Wort, sondern ein Begriff, der sich auf etwas für uns eigentlich Unfaßbares bezieht.

Wie konnte Gott jene staatlich organisierte, staatlich sanktionierte Unmenschlichkeit gegenüber Millionen seiner Geschöpfe zulassen? Wie konnte es nach zweihundert Jahren der Aufklärung gerade im Lande der Dichter und Denker zur Herrschaft einer Rassenideologie kommen? Wie war es möglich, daß weder die christlichen Kirchen noch die demokratisch regierten Länder der Barbarei im Zentrum Europas Einhalt zu gebieten vermochten?

\ Heute ist man zur Tagesordnung übergegangen. Man vergißt, verdrängt oder leugnet gar das Geschehene. Manche machen sogar die Opfer selbst dafür verantwortlich.

Auch die Opfer und ihre Nachkommen tun sich schwer, das Unfaßbare zu begreifen. Für viele Juden ist es naheliegend, daß sie den Holokaust als Höhepunkt ihrer Leidensgeschichte betrachten, die mit ihrer Auserwählung durch Gott zu Zeiten Abrahams in Verbindung steht. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Uberzeugung, daß der Holokaust quantitativ und qualitativ von Leiden anderer Völker verschieden ist.

Vergleiche sind jedoch unumgänglich. Mir scheint die Vernich- . tung der Juden durch das Hitlerregime der Verbindung von Technologie und totalitären Ideologien zu entsprechen, wie das für unser Jahrhundert typisch ist.

Noch wichtiger ist vielleicht die Einsicht, daß der Kopf der Hydra, der die Hybris einer Rasse darstellte, zwar abgeschlagen ist, daß jedoch die vielen weiteren Köpfe derselben Hydra, die die Hybris der modernen Technologie darstellen, noch leben und gedeihen. Sie mißbrauchen, um leben zu können, die Schöpfung für sich, mißachten die Würde von Millionen von Menschen und verneinen das Wissen um den Hunger der Menschen.

Es ist unsere Pflicht, die Liebe der Gemarterten in die Zukunft zu tragen; und zwar im Dienste derer, die leiden. Unfaßbares, Unauflösbares darf uns nicht entmutigen — auch wenn es keine Wiedergutmachung gibt.

Gerade heute sind Kultur und Religion sowie Humanität, die aus ihnen fließt, kein Luxus.

Sie sind notwendige Instrumente für unser aller Uberleben.

Der Autor, emeritierter Professor für Amerikanistik in München, ist ein engagierter Befürworter des christlich-jüdischen Gesprächs.

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