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Die hellen Stunden der Vernunft

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Und wieder saßen wir an einem Tisch, wir, Theaterleute, Schriftsteller, Literaten, Freunde der Komödienspieler in Spittal an der Drau. Das Ensemble Porcia des Herbert Wochinz hat nun zum zweiten Mal zum Symposion eingeladen, und das Gespräch war intim und labyrinthisch und leise: gemeinsames Meditieren über das Wesen der Wiener Volkskomödie und über ihre Chancen heutzutage. Doch blieben wir nicht beim Thema, sondern versuchten vielmehr, auch Fernes herbeizuziehen, wie bereits vor zwei Jahren. Damals ist es um die französische Komödie gegangen und doch auch um vieles mehr. Doch der Ausgangspunkt all der Grübeleien war auch damals nicht die abstrakte Ideologie, nicht das weltanschauliche Dogma, nicht das Vorurteil und die vorgefaßte Meinung, sondern das lebendige Erlebnis. Wir saßen im Renaissance-Hof des Schlosses Porcia in der schönen Stadt Spittal an der Drau, sahen Theater und also verdichtetes, geballtes, komprimiertes Leben, und ließen sie dann werken: sie, die Phantasie. Im geistigen Spiegelkabinett von Schein und Sein ereignete sich dann Bemerkenswertes.

Diesmal sahen wir zuerst „Unverhofft“ von Nestroy, hell, rasch und pointiert gespielt, dann den „Kavalier aus Flandern“ von Lope de Vega, in einer ironisierenden Übersetzung von H. C. Artmann fulminant inszeniert, endlich den „Furchtsamen“ des genialen Philipp Hafner, eine Charakterkomödie aus dem frühen 18. Jahrhundert. Herbert Wochinz hatte inszeniert. Seine Bereitschaft zur rationalistischen Stilisierung macht die Spiele von Spittal zum Ereignis von euröp’äischbr Öedeütung. Hier zeigt der Kontinent eine Möglichkeit der Zukunft: einen Zustand, der weder den politischen Dogmen des 19. Jahrhunderts noch den törichten und unmenschlichen Gesetzen des Marktes unterworfen ist. Wochinz war und ist ein Mitstreiter von Bek- kett, von Ionesco; er hat Jean Genet zum ersten Mal nach Österreich gebracht; seine Haltung überwindet mühelos die verschiedenen kurzlebigen Posen des sogenannten Kunstbetriebes. Das Wichtige ereignet sich meistens in der Stille. Jenseits der Alpen, in Salzburg, geht man den anderen Weg: den Weg nach außen. Allerdings hatten Hofmannsthal und Reinhardt jenes Fest als ein Weihespiel der Stille konzipiert…

Das Wiedersehen in Spittal war vergnüglich, war sinnvoll, war vielleicht sogar geistig fruchtbar. Da saß nun wieder Christiane Hofmannsthal aus New York, Tochter des Klassikers, Witwe des großen Ethnologen Zimmer; in Greenwich Village sind wir vor vielen Jahren lange vor ihrem kleinen Haus gestanden, und rund um uns sangen und plauderten um zwei Uhr nachts laut und fröhlich die Studenten von New York. Erika Unterberger war aus Tokio nach Spittal gekommen, eine Dozentin für Germanistik und dabei von einer freundlichen, spröden Heiterkeit! Heidi Dummreicher, die ja ab und zu auch in unserer FURCHE schreibt, mußte nach kurzen und mit aller Schärfe formulierten Diskussionsbeiträgen an den Schreibtisch, und auch Lothar Sträter, schweigsam und riesenhaft, germanischer Erforscher des südöstlichen Europa, mußte bald zurück nach Salzburg.

Aber Professor Vortriede, der große Germanist der Universität München, sprach über die stilkritischen Aspekte von H. C. Artmanns Ironie, und ein anderer Kulturhistoriker aus Bayern, Karl Neumann, Mitarbeiter des deutschen Fernsehens, traf mit kurzen, prägnanten Zwischenbemerkungen ins Schwarze. Luciano Cosetto aus

Triest war da, nun in Wien ansässig und mit Wien unzufrieden: ein führender Journalist seiner Heimat, fasziniert von der „Wochinz’schen Latinität“. Und es war gut, den lieben Piotr Rawicz endlich wiederzutreffen, den Ritter der Pariser Resignation, der nun im „Figaro“ etwas über Porcia zu notieren hatte.

Ebenfalls aus Paris war Christoph Graf Schwerin nach Spittal gekommen, ein feiner, etwas schwärmerischer Geist, mit seiner jungen Frau, die in ihrer schönen stillen Würde aussah wie die Prinzessin eines vor kurzem ausgestorbenen exotischen Stammes; und auch Ernest Sello war da, Beobachter der europäischen Ereignisse, lang, lieb und böse und bebartet. Und wer noch? Vintila Ivanceanu aus Bukarest, Vorkämpfer eines neuen österreichischen Surrealismus, frischgebackener Verleger, launenhaft und sportiv; Hans Staudacher, der durch viele denkwürdige Erlebnisse gereifte Reporter, der seinen klaren deutschen Akzent seit Jahren wie eine würdige Robe durch die Wiener Redaktionen trägt; der kleine, äußerst konzentrierte Anton Mayer vom Fernsehen und der große, mit schöner Großzügigkeit waltende Heinz Tomek von der Nachrichtenagentur, und Friedrich Heer, der Historiker, Freund und Professor, unermüdlich in der Diskussion, Denker im Stil einer fürwahr barocken Fülle, „am Rande der Ex- kommunizierung“, wie er selbst sagte. („Ein selbstgewählter Platz“, erwiderte kurz, bündig und distanziert Karl Neumann.)

Wovon wir sprachen? Vom Geiste Kärntens im Schnittpunkt österreichischer, romanischer, slawischer Strahlungen; kein Wunder, wenn dann in Spittal solche, von drei Kulturen getragene Spiele über die Bretter gehen können … Wir sprachen über die Komödien der Wiener und über die Möglichkeit einer zeitgemäßen Interpretation. Wir sprachen über Wochinz und über die Einsamkeit: über unser gutes Recht, einsam zu sein. Heer meinte, die Komödie sei die höchste Form der Tragödie. Das gab zu denken. Ein anderer behauptete, die Tragik der Komödienfiguren liege in ihrem Mangel an Individualität. Sie sind Klischees, die sich einem komödiantischen Mechanismus fügen müssen. Und jemand sah Wochinz als einen Vertreter der prä-realistischen und der post-realistischen Kunst: die Flinkheit seines Stiles hebt jeden Text über den platten Realismus hinaus und schafft archetypische Konfliktsituationen.

Flinkheit? Das Wort klingt allzu unkünstlerisch; Tempo ist meistens im Sport wichtig und nicht auf der Bühne. Und die Ästheten sind selten Rekordler.

Warum eigentlich? Wann und wie ist diese merkwürdige, im höchsten Maße unmenschliche Teilung zwischen Geist und Fleisch, zwischen Ästhetik und Biologie, zwischen Kunst und Sport entstanden? Und steht der Kunstbegriff unserer Zeit nicht unter dem Einfluß einer einseitigen, Snobismus und Schmok- kerei hervorbringenden Hinneigung zum Artifiziellen?

Künstlichkeit ist aber das Ende der Kunst.

Nicht alle, die saßen, waren mit dem Satz einverstanden, aber darum ging es ja gar nicht. Es ging und geht um die Möglichkeit, Leben zu sublimieren, in Kunst zu verwandeln, auf der Bühne zu stilisieren. Es geht um die taktischen und strategischen Probleme des Widerstandes gegen die Übermacht des großen Geschäftes und der vergreisten Ideologie. Die hellen Stunden der Vernunft in Spittal an der Drau waren Stunden des Op- ponierens. Was sich hier allmählich entwickelt, ist die Keimzelle eines geistigen Nebenparlamentes.

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