6991952-1986_47_17.jpg
Digital In Arbeit

Die Hütte Catulls

Werbung
Werbung
Werbung

Der Traum vom Leben auf dem Lande wird geträumt, seit Menschen in Städten wohnen. Er ist ein Thema, das von einer Generation zur nächsten variiert. In manchen Zeiten träumen ihn nur wenige, in anderen viele. Sein manifester Inhalt kommt aus den Unzulänglichkeiten der Stadt, den in ihr unerfüllbaren Wünschen. Der latente Inhalt entsteht aus den Sehnsüchten und Ängsten der Seele, die ja selber ein weites Land ist.

Uberall und bis in die Antike zurück finden wir die architektonischen und literarischen Verwirklichungen der Träume vom ländlichen Leben.

Wer hat sich nicht schon manchmal sein Tusculum im Geiste aufgebaut und ausgemalt? „Salve, o venusta Sirmio, atque ero gaude!“ Eine Glückserwartung klingt aus dieser Begrüßung Catulls. Seine Hütte -oder seine Sehnsucht danach -, die römischen Landsitze, die Vil-leggiatura im Cinquecento, Marie Antoinettes Hameau, Rousseaus Ideen, der Wiener Cottageverein, die Schrebergartenanlagen und eine Fülle anderer Beispiele von Dichtern und Denkern, Beherrschenden und Beherrschten illustrieren den Traum vom Leben auf dem Lande.

In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wurde das Land durch diesen Traum parzelliert und zersiedelt. Die Konsumgesellschaft konsumierte es und zwang ihm seine unpassenden Häuser und Gärten auf, die deutliche Darstellungen menschlicher Kommurtikationsunfähigkeit sind. Die Träume reichten damals nicht über die Gartenzäune hinaus. Sie waren Vorstellungen von Freiheit durch Haben und Versuche, der Entfremdung, die die moderne Industriegesellschaft ihren Bürgern antut, durch Isolation zu entgehen.

Die Kinder dieser Generation, im Haben herangewachsen, träumen vom Sein. Für sie ist das Gefühl der Entfremdung - von sich selbst, den Mitmenschen, dem eigenen Leben und der Welt -schärfer geworden. Aufgewachsen in den kommunikationsarmen Kleinfamilien der technologischen Massengesellschaft, verwöhnt und frustriert zugleich und bereits mit der Erfahrung konfrontiert, daß Konsum nicht glücklich macht, sehnen sie sich nach der Erlösung aus der Entfremdung durch Selbstverwirklichung und Integration.

Die Entfremdung vom eigenen Körper führte zum Verlust des Verständnisses für seine Gesundheit. Um diesen schweren Fehler zu kompensieren, erinnert man sich natun&her Lebensweisen, die zurück aufs Land führen. Doch das Land ist auch nicht mehr gesund, ist schwer geschädigt und bedarf der Hilfe des Menschen. Die gemeinsame Bedrohung schafft eine neue Beziehung.

Die Entfremdung von der Arbeitswelt weckt das Verlangen nach unmittelbar nützlicher, sinnvoller Tätigkeit, wie man sie auf dem Lande tut: säen und ernten, pflanzen und pflegen, spinnen und weben. Der Bereich des durch die Mechanisierung so gründlich und ersatzlos verdrängten Kunsthandwerks meldet sich wieder.

Doch auf dem Land wird wie überall nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen produziert. Für etwas anderes ist keine Zeit. Wer etwas anderes will, muß es mitbringen oder tun. So retten Eigeninitiative und Aktivität aus der Entfremdung durch passives Konsumieren. Altes Brauchtum, von Volkskundlern und Heimatforschern gehütet, ersteht neu, alte Fertigkeiten werden geübt und Kurse zum Erlernen von Bauernkunst abgehalten., Der Traum vom Land enthält auch die Vorstellung von Gemeinschaft und Zusammenleben und Zusammenarbeiten.

Die Entfremdung vom eigenen inneren Leben hat mit dem Verlust an Sinnlichkeit zu tun. Der Geruchssinn ist vom Treibgas, das Gehör vom Lärm und die Augen sind von der Reizüberflutung geschädigt. Auf dem Land kann etwas von der Sensua-lität der Kindheit wiedererstehen, wodurch das Leben an Fülle gewinnt.

Morgens noch mit geschlossenen Augen zu fühlen, welches Wetter draußen ist, den Lauf des Tages, den Wandel der Jahreszeiten in der Vielfältigkeit ihrer Erscheinungsformen zu erleben, im Freien zu sein: das kann Freude und Freiheit bedeuten. Sinnlichkeit ermöglicht Besinnlichkeit, und so kommt der Mensch sich selbst wieder näher..

Der Stadtflüchtige hofft, der Pdesieverhinderung des Alltagslebens zu entgehen, und er nimmt aus der Stadt das ihm Wesentliche mit: Maler und Dichter, Galerien und Museen. Uberall treffen wir auf Ausstellungen, Theater und Konzerte. Das Dorf reglementiert die Lebensweise des einzelnen nicht mehr und übt nicht mehr die Zwänge auf sein Denken und Fühlen aus, deretwegen er einstens in die Anonymität der Stadt geflohen ist.

So verspricht das Leben auf dem Lande die Überwindung der Entfremdung, was bedeutet, wieder mit sich und anderen in Harmonie leben zu können, eigenständig und dennoch integriert. Aber hinter allen Wunschträumen steht der Alptraum: die Gefährdung der Umwelt, die Bedrohung des Lebens. Und auch diese ist, sei es aus Schuldgefühl, sei es aus Angst vor Verlust, treibende Kraft der Utopie.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung