Jüdisches Museum: Das Hinterfragen von Klischees soll falsch sein?

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„Zu vielen ist das Lachen vergangen“, meinten Martin Jäggle und Willy Weisz über die vieldiskutierte Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ im Jüdischen Museum Wien. Eine Replik.

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„Zu vielen ist das Lachen vergangen“, meinten Martin Jäggle und Willy Weisz über die vieldiskutierte Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ im Jüdischen Museum Wien. Eine Replik.

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Aus den zahlreichen und teilweise heftigen Reaktionen auf diese Ausstellung schließe ich, dass hier „alte weiße Männer“ jederlei Geschlechts eine Art von kultureller Aneignung versuchen: Nur ihre Sichtweise auf Antisemitismus und den Umgang mit dem Gedenken an die Schoa sei legitim. Ich bin selbst ein alter weißer Mann (72) und Sohn von Schoa-Überlebenden – und wehre mich ganz entschieden gegen diesen Versuch der Vereinnahmung.

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Natürlich ist die Rezeption der Ausstellung auch davon abhängig, in welcher Weise die eigene Familiengeschichte verarbeitet oder nicht verarbeitet wurde. Trotzdem ist die hochgradig unjüdische Humorlosigkeit, mit der diese Ausstellung zum Teil wahrgenommen wird, für mich nicht nachvollziehbar. Die umstrittenen Ausstellungsobjekte stammen von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern und haben daher auch einen selbstironischen Anteil. Das scheint manche Kritiker zu überfordern.

Wer erinnert sich etwa noch an den Sturm im Wasserglas, als „Der jüdische Witz“ von Salcia Landmann erschien? Friedrich Torberg z. B. warf ihr vor, antisemitische Vorurteile zu befördern und nannte das Buch 1961 einen „beunruhigenden Bestseller“. Vielleicht hatte die Autorin, die zwar 1911 in Galizien geboren wurde, aber bereits seit 1914 mit ihrer Familie in der Schweiz lebte, einen vollkommen anderen Zugang zum Thema als Nachkommen von Schoa-Überlebenden?

Neue Wege des Gedenkens

Das trifft wohl auch auf einen Teil der Künstlerinnen und Künstler zu, die in dieser Ausstellung vertreten sind. Die Frage ist also: Ist die Sichtweise von Schoa-Überlebenden und ihren Nachkommen die einzig zulässige? Können Juden, die seit vielen Generationen in anderen Kulturkreisen leben, nicht einen völlig anderen Zugang haben? Und sind diese Zugänge zum Thema nicht genauso legitim?

Im Gegensatz zu vielen Kritikern gehen Martin Jäggle und Willy Weisz in ihrem letztwöchigen FURCHE-Gastkommentar auf einzelne Objekte der Ausstellung ein, gleich als erstes auf eine Videoperformance von Jane Korman (2010). Darin tanzt der Auschwitz-Überlebende Adolek Kohn mit seiner Tochter (Korman) und seinen Enkelkindern zu Gloria Gaynors „I Will Survive“ vor den Toren des Vernichtungslagers, das er überlebt hat. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass durch diese Darstellung eine Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber der Schoa entstehen kann. Nachdem kaum noch Zeitzeugen leben, verstehe ich das viel eher als den Versuch, neue Wege des Gedenkens und Erinnerns zu suchen. Auch der Falter stellte jüngst die Frage, wer in Auschwitz tanzen darf. Jane Korman hat die Antwort längst gegeben: Auschwitz-Überlebende.

Andere Sichtweisen sind legitim, vor allem wenn sie so respektvoll und klug präsentiert werden wie hier.

Diese Performance ist für mich genauso stimmig wie das Statement des in Wien geborenen Eric Pleskow anlässlich eines Interviews zu seinem 95. Geburtstag im Kurier: „Dass meine Eltern und ich uns vor den Nazis retten konnten, dass ich noch lebe und Kinder und Enkelkinder habe – das ist meine Rache an Hitler.“ Oder als Erica Freeman anlässlich eines Besuchs in Wien auf dem Altan der Neuen Burg stand und in der Wiener Zeitung meinte: „Das ist meine Rache an Hitler. Eine jüdische Rache, kein Blut, nur Freude, Freiheit und Hoffnung.“ Was kann man also an der Lichtinstallation „Endsieger sind dennoch wir“ von Sophie Lillie und Arye Wachsmuth nicht oder falsch verstehen?

Es ist sehr einfach, Kritik an der Ausstellung und ihrem Konzept zu äußern, indem man die Objekte aus dem Kontext stellt. Auch dazu ein Beispiel: Der Wandtext zum Objekt „Hitler als Kaminvorleger“ von Boaz Arad lautet „,Auge für Auge, Zahn für Zahn‘ fordert zur Rache auf“ und nennt damit eines der besagten Missverständnisse: Die von Luther vorsätzlich falsche Übersetzung „Auge um Auge“ sollte die Juden als rachsüchtiges Volk darstellen. Tatsächlich meint der Bibelvers aus Exodus (Ex 21,23-25) aber genau das Gegenteil: So wie schon im Babylonischen Recht geht es gerade darum, Rache und Selbstjustiz zu vermeiden und Schadenersatz in geordnetem Rahmen zu leisten. Man mag das Ausstellungsobjekt als geschmacklos empfinden, aber es gibt wohl kaum ein drastischeres Bild, um sich an der falschen Bibelübersetzung zu „rächen“.

Familiengeschichten einfließen lassen

Andere Sichtweisen aus der eigenen und anderen Kulturen sind demnach ebenso legitim, vor allem wenn sie so respektvoll, klug, durchdacht, humorvoll präsentiert und kontextualisiert werden, wie das in dieser Ausstellung der Fall ist. Die Familiengeschichten der Künstlerinnen und Künstler finden sich immer in irgendeiner Art in ihren Werken. Wobei es sicher beim Verständnis des jeweiligen Zugangs zu einem Thema geholfen hätte, wenn man diese Familiengeschichten in die Präsentation oder in den Katalog hätte einfließen lassen.

Verwunderlich, dass keiner der vielen Kritiker der Ausstellung gegen die Klischees protestiert, die in „The Nanny“, „The Marvelous Mrs. Maisel“ oder in der „Soiree bei Tannenbaum“ transportiert werden. Aber wenn eine Ausstellung diese und andere Klischees witzig und intelligent hinterfragt, dann soll das falsch sein? Nein, das beweist nur, dass es mehr als 100 Missverständnisse gibt – und so wird die Ausstellung auf ganz einmalige Weise interaktiv. Hingehen, anschauen, Meinung bilden!

Der Autor war über 30 Jahre in leitender Funktion im Springer Verlag tätig. Seit 2013 ist er ehrenamtlich tätig, von 2014 bis 2020 als Obmann der Vinzenzgemeinschaft Hl. Elisabeth, die in Simmering einen Sozialmarkt betreibt.

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