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Ein Ende der Entfremdung?

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Mitte Oktober erhielt der polnische Philosoph Leszek Kolakowski in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis 1977. Ich begegnet seinem Namen zum erstenmal in einem großen Interview, das er sechs Jahre zuvor, kurz nach seiner Emigration in den Westen, dem deutschen Wochenblatt „Die Zeit” gegeben hatte. Da sagte Kolakowski unter anderem: er sei zwar Atheist, müsse aber bekennen, daß der Mensch nie und nirgends soviel Selbstidentifikation erreiche wie durch die Religion.

So sprach er, ein Pole, also Angehöriger eines Volkes, dem die Kirche seit jeher Raum der Selbstverwirklichung bot; sprach allerdings auch als Neo- marxist, der von der sozialistischen Realität enttäuscht war.

Der Satz blieb mir im Gedächtnis. Ich habe ihn seither oft zitiert. Er war mir so wichtig, weil er zwar aus dem Munde eines Atheisten kam, doch um so deutlicher darauf hinzuweisen schien, daß die Religion mehr für den Menschen zu leisten fähig ist, als alle anderen ideologischen Angebote. Heute stelle ich mir nun freilich die Frage: Was ist denn nun wohl unter dieser „Selbstidentifikation” genau zu verstehen?

Gewiß nicht einfach Glück, Wohlbehagen, platte Zufriedenheit, denn dann wäre sie ja durch jedes zufällige Mißgeschick gefährdet. Selbstidentifikation ist sicher und schon gar nicht Selbstgefälligkeit und egozentrische Selbstgewißheit, denn gerade Selbstgewissen bedrohen Fremdheit und Vereinsamung in einer seiner Egozentrik widerstehenden Umwelt. |

Ich möchte meinen: Selbstidentifikation ist der Zustand, in derr das Ich ja zu sagen vermag zu derr, was ist, oder sich doch zu einem sole hen Ja bereit finden läßt; ein Zustar d also’ in dem sich der einzelne als Teil eines Ganzen angeschlossen weiß an eine große Sinnfigur, die für um so vollkommener gelten darf, je universaler sie ist; je tiefer sie die Vergangenheit deutet, je mehr Gegenwart sie umfaßt, je mehr Zukunft sie miteinbezieht; diese Sinnfigur kann, so denke ich, nicht auf die Menschenwelt, nicht auf Gesellschaft und Kultur beschränkt bleiben, sie muß in irgendeiner Weise auch die Natur umfassen, deren Gesetzlichkeiten, deren Strukturen.

Die Bedrohung durch den blinden Zufall, vor der wir alle zittern, löst sich auf in die, wenn auch bange, so doch immer auch hoffnungsvolle Bereitschaft, Fügung anzunehmen, Fügung für möglich zu halten.

Jeder Mensch, ob gläubig oder ungläubig, ist ja doch einem unabsehbaren ES ausgeliefert, einer unserem Zugriff entzogenen Verkettung von Umständen, die alle Voraussicht übersteigt und uns in jedem Augenblick viel geben und alles nehmen kann. Der Ungläubige steht stumm und geduckt unter dieser Glocke blinder Verfügungsgewalt, zu der er keinerlei Beziehung anzuknüpfen weiß, ohnmächtig hoffend, daß ihm noch eine Frist gewährt sei.

Der Gläubige ist in einer anderen Lage. Er hat die Kühnheit vorauszusetzen, daß sich hinter der scheinbaren Willkür der Verkettungen der planende Wille eines Schöpfers verbirgt; der Gläubige bringt das Vertrauen auf, diesen Willen anzurufen und ihn väterlich zu nennen; er wagt das stumpfe, dumpfe übermächtige ES, das den ungläubigen Bruder zu Boden drückt, mit einem DU anzusprechen und mit ihm zu kommunizieren.

So und nur so bringt er sich selbstidentifiziert, das heißt als Einzeln- Eigentlicher in das Ganze ein und erfährt sich in diesem.

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