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Ein großes Wort

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Neuernannte Minister neigen dazu, ihren Amtsantritt mit großen Worten einzubegleiten. In Pathos macht sich Ergriffenheit angesichts der großen Verantwortung bemerkbar. Auch verlangt die Gelegenheit nach einem klaren Programm. Rhetorisch veranlagte Naturen kämen freilich auch in die Versuchung, in der feierlichen Minute die Öffentlichkeit, und sich selbst, zu blenden.

Das Wahlvolk neigt jedenfalls angesichts solcher Deklarationen zu einer abwartenden Haltung. Man hat im Laufe der Zeit zu viele schöne Worte vernommen. Es gilt, ihre tiefere Bedeutung zu prüfen.

Die ersten Äußerungen des neuen Unterrichtsministers waren allerdings geeignet, das angebrachte Mißtrauen zu zerstreuen. Herbert Moritz bekannte sich zur notwendigen Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften des Landes. Er sprach von einer Schule, die Leistung in einer Atmosphäre der Freude hervorbringt. Er lehnte es ab, das geistige Leben als einen Kampfplatz zwischen „Hochkultur" und „Subkultur" zu betrachten. Seine Ausführungen gipfelten in einem Plädoyer für humanistische Bildung. . Sollte der Minister darangehen, seine Vorstellungen in die Wirklichkeit umzusetzen, so wird er all jene an seiner Seite sehen, die in geistigen Dingen die Qualität über die Quantität stellen, die gegen die Entmenschlichung, Aushöhlung und Verflachung unserer Kultur ankämpfen, die der Entwertung aller Werte gerade das humanistische Bildungsideal entgegensetzen.

Er wird diese Hilfe bitter notwendig haben. Viel zu lange wurde gerade auf diesem Gebiet Pluralismus mit Chaos, Mut mit Hy-bris, Erneuerung mit Zerstörung verwechselt; viel zu stark ist die unheilige Allianz zwischen den Vertretern einer einseitig materialistischen Ausrichtung im Dienste der „Erfordernisse der

Ökonomie" und den ebenso einseitig materialistischen Vorkämpfern verschiedener vulgärmarxistischer Vorstellungen.

Das Zusammenwirken dieser Kräfte, die sich zueinander sonst im schroffen Gegensatz befinden, hat dazu beigetragen, daß viele Schulen nicht mehr Bildung, sondern bestenfalls Ausbildung vermitteln. Schwächung der Denkfähigkeit ist die Folge. Wer die Orthographie nicht beherrscht, muß notwendigerweise auf das Schrifttum verzichten, wer in Sprachfragmenten dahinstottert, kann weder sich selbst noch die Welt begreifen; er kann sich nicht artikulieren; er wird zum Untertan.

Daß ein solcher Zustand den einzelnen unglücklich macht und zur Desorientierung der Gesellschaft beiträgt, ist unser aller tägliche traurige Erfahrung.

Wenn nun Herbert Moritz den Versuch unternimmt, dem humanistischen Bildungsideal in den Schulen, aber auch im kulturellen Leben zu seinem Recht zu verhelfen, muß der Begriff genauer definiert werden. Das Wort „Humanität" ist seit Cicero in Gebrauch, kein Wunder, wenn es in den zwanzig Jahrhunderten seither oft mißbraucht worden ist.

Wenn humanistisch einfach mit „menschlich" übersetzt wird, befinden wir uns unversehens im Gezänk um die Frage: Was ist menschlich? Die Antwort der griechischen Philosophen, des Alten und Neuen Testaments wird von all jenen, die den Menschen für ihre engen politischen Ziele gewinnen wollen, abgelehnt. Der Sieg des Stärkeren über den Schwächeren wurde ebensooft als „menschlich" bezeichnet wie die Auslieferung des einzelnen an das Allwissen der Partei.

Es ist fürwahr lebensnotwendig, solche Mißdeutungen als falsch zu entlarven und humanistische Bildung als einen integra-tiven Begriff zu sehen, in dem die Lehren der großen Religionen, die entsprechenden Überlegungen der Antike, die Programme .der Humanisten mit den humanen — das heißt: den Menschen in seiner seelischen und körperlichen Existenz erfassenden — Bildungstheorien zusammenfließen. Die Jünger Christi und die jüdischen Propheten, Sokrates und Cicero, Erasmus von Rotterdam und Jan Comenius, Pestalozzi und Humboldt haben den Geist geschaffen, den wir als humanistische Bildung begreifen; sie und ihre Gefährten formen, gerade durch ihre unterschiedliche Denkungsart, jenen einheitlichen Kreis europäischen Denkens, den Salvador de Madariaga vor gut fünfzig Jahren in seinem Werk „Elysäische Felder" beschrieben hat. Die Stimmen der Großen sind lebendig geblieben; der Kreis des Denkens steht weiterhin offen, die Uberlieferung ist stark genug, um einer zeitgemäßen Interpretation des Begriffes den Weg zu weisen.

Wird es Herbert Moritz gelingen, die besten unter den Pädagogen für die Sache der humanistischen Bildung zu mobilisieren? Wird er sie von der Verpflichtung, überflüssige Spezialkenntnisse vermitteln zu müssen, durch Ent-rümpelung des Lehrstoffes wirklich befreien? Wird er für sie durch den Abbau der überwuchernden Bürokratie die für sinnvolle Arbeit notwendige Freiheit und Freizeit verschaffen? Und wird der Unterrichtsminister bereit sein, auch in der Diskussion um die künstlerische Freiheit den Standpunkt der humanistischen Bildung zu vertreten?

Die Aufgabe ist großartig und schwierig. Ihre Erfüllung könnte zur Humanisierung unserer Gesellschaft beitragen.

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