6798259-1971_21_01.jpg
Digital In Arbeit

Einsam in der großen Stadt

19451960198020002020

Kürzlich fand in Innsbruck Österreichs 24. Städtetag statt. Die Vertreter von 53 Prozent der Bevölkerung bildeten zwar ein interessiertes Fachpublikum — die Öffentlichkeit ist an ihren Anliegen aber fast völlig vorbeigegangen.

19451960198020002020

Kürzlich fand in Innsbruck Österreichs 24. Städtetag statt. Die Vertreter von 53 Prozent der Bevölkerung bildeten zwar ein interessiertes Fachpublikum — die Öffentlichkeit ist an ihren Anliegen aber fast völlig vorbeigegangen.

Werbung
Werbung
Werbung

Die starken Veränderungen in der Politik auf Bundesebene und die damit verbundene Öffentlichkeitswirkung haben eine Entwicklung überdeckt, an der die Träger politischer Verantwortung nicht vorüibergehen sollten. Die Bedeutung der Gemeinden für das Leben des einzelnen und für die Gestaltung des Landes ist in einem entscheidenden Ausmaß gewachsen. Die zunehmende gesellschaftliche Verflechtung, das Anwachsen gemeinschaftlicher Aufgaben und die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft haben gemeinsam mit der Siedlungskonzentration Probleme geschaffen, die in erster Linie die lokalen Verwaltungen der Städte und Gemeinden betreffen. 40 Prozent aller öffentlichen Investitionen werden jährlich auf Gemeindeebene entschieden, die Gemeinden führen mehr als 400 Betriebe direkt, an vielen sind sie beteiligt oder haben sie ermöglicht. Die Bautätigkeit — sei es Hoch- oder Tiefbau — wird heute entscheidend von der Karnmunalverwaltung beeinflußt, in der Infrastruktur des Fremdenverkehrs haben Kurverwaltungen und Verkehrsvereine wesentliche Leistungen erbracht oder versäumt. Im Wege eines „grauen” Finanzausgleichs haben es zentrale

Orte übernommen, Schulen zu errichten und vorzuflnanzieren und damit dem Bund wesentlich unter die Arme gegriffen und sich selbst dabei in ungeheure Schulden gestürzt. Das Ausmaß der kommunalen Verschuldung ist im österreichischen Durchschnitt 1968 pro Kopf des Einwohners 2410 Schilling gewesen, wobei die Hauptlast eindeutig von den Orten zwischen 5000 und 50.000 Einwohnern zu tragen war.

Neben diesen in erster Linie wirtschaftlichen Fakten spielt noch die Tatsache mit, daß auch in Österreich der Trend zu einer Siedlungskonzentration eine Entwicklung herbeigeführt hat, die in anderen Ländern unter dem Schlagwort „Urbanisierung” längst eine ‘drängende Realität geworden ist. Das Bundesraum- ordnunigsgutachfen, das von der Regierung Klaus erstellt wurde, zeigt diese Tendenz für den Raum des Wiener Beckens, im Industriedreieck Linz-Wels-Steyr, im Raum Salzburg-Hallein, im Unterinntal und im Rheintal, zwischen Klagen- furt-St. Veit und Villach sowie dm Mur-Mürz-Tal und in Graz. In diesen Räumen ist neben den alten Städten und Gemeinden eine starke Zersiedlung festzustellen, die das Entstehen einer nachbarschaftlichen

Gemeinde bezweifeln läßt. Ähnliche Gefahren für das Gemeinschaftsbewußtsein bringen Satellitenstädte und Fertigteilanlagen, wie Neu- Kagran oder Puchenau bei Linz. Trotz modernster Konzeption ist die Entfremdung und Vereinsamung, die Überbetonung der Privatheit gegenüber der Öffentlichkeit eine eminente Gefahr für das menschliche Zusammenleben. An Stelle von Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgefühl tritt Aggression und Unmut; Familien scheitern an Problem der Distanz zwischen Arbeitsstätte und Wohnung, und der eigentliche Kern unserer Gemeinden wird abends zu einer leeren Hülse einer modernen Bürowelt.

Dadurch erlischt auch das politische Leben auf der Gemeindeebene. Großgemednden sind zwar verwaltungstechnisch und ökonomisch richtig, beenden aber die geordnete Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das völlige Fehlen einer kommunalen Öffentlichkeit, die mangelnde Möglichkeit der Mitwirkung an kommunalen Entscheidungen führt dazu, daß unsere Umwelt immer häßlicher und weniger lebenswert wird. Ungestraft kann heute die Gemeinde Wien an Stelle der früher üblichen Gasometer an strategischen Punkten Schlote von Fernheizwerken errichten, können Gemeinden durch Hochhausbauten ein Landschaftsbild zerstören.

Dieses Erlöschen politischen Gemeinschaftssinns auf der untersten Ebene gefährdet die Zufuhr neuer und lebendiger Kräfte in der Demokratie. Verdankten viele wachsende Gemeinden des 19. Jahrhunderts wesentliche kulturelle, gesellschaftliche und humanitäre Einrichtungen Bürgerkomitees und ähnlichen freiwilligen Aktionsgruppen, so ist es heute die Anonymität der Verwaltung, die uns mit Stadthallen, Denkmälern und Donauparks beglückt. Im eigenen Interesse werden die Parteien danach zu trachten haben, das Interesse des Wählers an der Mitwirkung in der Gemeinde zu wecken. Sie können dem Vorwurf eigener Inaktivität, mangelnder Probleme und fehlender Personalauslese durch die Stellung von Gemeinschaftsaufgaben begegnen. Projekt- gruppen zur Erarbeitung von Vorschlägen für die wirtschaftliche Infrastruktur zur Verbesserung der Chancen des Fremdenverkehrs, zur Errichtung von Freizeitzentren, zur Erleichterung des Altenproblems, sind ebenso möglich, wie die breite Diskussion der Betroffenen bei Neugestaltung von Straßen, Plätzen, Wohnblocks und Vierteln. Aus dem Konsumenten der Gemeindeeinrichtungen muß ein Mitgestalter der Gemeinschaft werden. Die Chance, Verantwortung wahrzunehmen, senkt die Aggressivität und verhindert Katastrophen, die von einer erhöhten Ehescheidungsrate bis zur Jugendkriminalität reichen können. Gefragt ist allerdings Einfallsreichem und ein ehrliches Angebot der Parteien, ihre Möglichkeiten in den Dienst des Bürgers zu stellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung