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Erleuchtung in London

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Der Mann, von dem hier die Rede ist, war der Prototyp eines Aufsteigers: Johann Georg Hamann, 1730 in Königsberg, Ostpreußen, als Sohn eines Baders geboren, besuchte die Universität • seiner Heimatstadt, brach sein Studium vorzeitig ab, wurde Privatlehrer und Hofmeister und beschäftigte sich nebenher mit Handelswissenschaften. Durch Ubersetzungen französischer Fachliteratur ins Deutsche, die er zusammen mit seinem selbstverfaßten volkswirtschaftlichen Essay veröffentlichte, erregte er die Aufmerksamkeit des großen internationalen Handelskonzems Berens in Riga.

Noch nicht fünfundzwanzigjährig, erhielt er einen Vertrag als Leiter der Promotion-Abteilung: Öffentlichkeitsarbeit und Firmenwerbung zählten fortan zu seinen Aufgaben. Er wurde in einer handelspolitischen Mission nach London entsandt. Dieses Unternehmen scheiterte jedoch ohne seine Mitschuld. Anstatt aber nach Beendigung des mißlungenen Auftrages wieder die Heimreise anzutreten, blieb Hamann in London, geriet in die gesellschaftlichen Niederungen der Großstadt und stürzte in eine tiefgreifende existentielle Krise.

In der selbstgewählten Einsamkeit eines Untermietzimmers, fernab vom Getriebe der Weltstadt, widmete er sich endlich der Bibellektüre: „... las ich den 31. März des Abends das 5. Kapitel des 5. Buchs Moses, verfiel in tiefes Nachdenken... Ich fühlte mein Herz klopfen, ich hörte eine Stimme in der Tiefe desselben seufzen und jammern... Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet... des langen Widerstandes, den ich bisher gegen sein Zeugnis und seine Rührung angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heiland immer mehr und mehr zu offenbaren“, berichtete er in seinen „Gedanken über meinen Lebenslauf“.

Hamann kehrte als ein Gewandelter nach Riga zurück, nicht wiederzuerkennen für den Juniorchef der Firma, seinen einstigen Studienfreund, Johann Christoph Berens, und auch für seinen Bekannten, Immanuel Kant, seit 1755 Privatdozent an der Universität Königsberg. Er war nun ein der Gesellschaft und dem Zeitgeist Entfremdeter, ein für die Wirtschaft unbrauchbar gewordener Aussteiger. Kein Wunder, daß der Unternehmer und der Aufklärer alles daransetzten, den einstmals ambitionierten und zu berechtigten Hoffnungen Anlaß gebenden Mitarbeiter für den Berens-Kon-zern zurückzugewinnen.

Im Sommer 1759 kam es zwischen Berens und Hamann zu einer folgenschweren Auseinandersetzung. Doch auch der letzte Versuch, Hamann wieder als „brauchbares“ Mitglied in die Gesellschaft zu integrieren, scheiterte. Hamann antwortete dafür mit seiner Schrift „Sokratische Denkwürdigkeiten“. Darin bezieht er erstmals seine Position als Kritiker der Aufklärung. Er wird zu einem Gelegenheitsschriftsteller, der seine Werke von da an stets im Dialog mit einem äußeren Anlaß schreibt, ein Denker, der „weiß, daß er nichts weiß“: Eine Selbsterkenntnis, die er zurückführte auf den höchsten Akt der Vernunft, der Einsicht nämlich, ein Geschöpf zu sein, das seine Existenz dem Akt eines Schöpfers verdankt, und daß es daher kein autonomes menschliches Wissen geben kann.

Für Hamann war Natur die endliche Rede des unendlichen Gottes, dessen „Herablassung“. Vernunft war ihm das Organ, in der Natur die Stimme Gottes vernehmen zu können. „Rede, daß ich dich sehe! Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist“, schrieb er in seiner „Aesthetica in nuce“. Doch dieser Sinngehalt der Rede Gottes schwindet unter dem Zugriff der rationalistischen Vernunft: All die überklugen Kommentare hätten „den Text der Natur, gleich einer Sündfluth, überschwemmt. Mußten nicht alle ihre Schönheiten und Reichthümer zu Wasser werden?“

Hamann schien bereits zu diesem Zeitpunkt unsere augenblickliche Situation vorausgeahnt zu haben: Reduktion der Natur auf Begriffe, auf Abstraktionen, um sie beherrschen zu können, damit aber auch ihre Unterjochung unter physikalische, chemische und biologische Gesetzmäßigkeiten, ohne dabei zu ahnen, daß diese gleichzeitig auf uns zurückschlägt. So kommt es zum Verlust der Natur als sinnstiftender Zusammenhang und damit zum Verlust unserer Identität: Wir, die herrschen wollen, werden selbst zu Beherrschten.

Hamanns Schriften könnten für uns zu Wegweisern werden und helfen, angesichts des gegenwärtigen Prozesses der fortschreitenden Naturentfremdung zu einer neuen Sicht des biblischen Naturverständnisses zurückzufinden.

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