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Evangelimann als Strolch

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Ein gut besuchtes Bregenzer Festspielhaus bei Premiere und zweiter Aufführung stellte vor kurzem den — auch — musisch interessierten Alemannen unter Beweis. Großer Applaus war als Wohlwollenserweis gegenüber dem Unternehmen „Vorarlberger Opernwerkstatt" zu werten und jenseits jeden Zweifels verdienter Dank an Sänger, Orchester und Dirigent. Es war ein Erfolg, ein Erfolg jedoch, der eine fragwürdige Darbietung belohnte.

Offenkundige Absicht der Inszenierung war die Übertragung des Geschehens aus dem frühen 19. Jahrhundert in die Gegenwart: Heeresverpflegungsfahrzeug, Mode unserer Tage, Rollschuhe, Autoreifen und Müllberge waren beredter Ausdruck des Gewollten. Es scheint modern und/oder unabdingbar zu sein, „alte Stük-ke" in gegenwartsbezogener gesellschaftskritische Zielrichtung zu bringen.

Wer möchte ernstlich bestreiten, daß jede Gegenwart ihrer Kritiker und Mahner bedarf? Nur: Ist es ein gediegenes Mittel, bereits historisch gewordene Geschehnisse aus der zeitlichen Umgebung loszulösen und — Eigenwilligkeit um jeden Preis — in eine uns viel zu bekannte Gegenwart zu zerren?

Nicht nur der hier besprochene Bregenzer „Evangelimann", auch die St. Galler Inszenierungen eines „Fidelio" mit sevillianischen Kerkerwachen in SS-Uniform und die Verlegung eines „Nabuc-co" nach Theresienstadt zeigen 4 die Fragwürdigkeit des Versuches, die Komponisten und die Autoren - unter Beibehaltung der musikalischen Prämissen - einfach um Jahrhunderte zu überholen.

Ist es wirklich legitim - oder wenigstens nicht von schlechtem Geschmack - ein Werk im Wege der Inszenierung so weit vom Ursprung zu entfernen, daß der Betrachter an Stelle des Erwarteten etwas gänzlich anderes vorfindet?

Die Frage, ob eine vom Künstler gedachte Zeit sich einfach in eine andere stellen läßt, ist zu stellen. Unglaubwürdigkeit ist die notwendige Folge. Es wäre denkbar, den Evangelimann aus der Rolle des fast zu geläuterten Bibel-Bänkelsängers behutsam weiterzuführen und als einen eher in der Realität (auch seiner Zeit) stehenden, durch ein Ubermaß an Leid gereiften, obgleich armen doch geachteten Minder-Bürger-„Unterprivilegierten" - darzustellen. Nur: ihn auf der Müllhalde zu beheimaten und ihm den Alkohol in einem die Entziehungskur fordernden Maße auf den Weg des gereiften Mannes mitzugeben, heißt: die eigene Ernsthaftigkeit in Frage zu stellen. Die Worte „Zu dir hab ich Vertrauen" können so nicht mehr glaubhaft sein.

Die Handlung, wie sie Wilhelm Kienzl gestaltet hat, setzt der Modernisierung aber noch weitere Grenzen: Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis wegen verbotener Liebe und wirksame Vormundschaft zur Eheschließung Großjähriger sind in die Gegenwart nicht glaubwürdig transferierbar. Ein Meister Zitterbart im Rollstuhl befremdet; ein Kegelspiel mit blauem Wasserball verwundert; Waschmaschinen-Emballage in des Sterbenden Wohnung entbehrt des Sinnes.

Dem „Evangelimann" liegt zum großen Teil eine wahre Begebenheit zugrunde. Ergänzungen mit Realem unserer Zeit machen ihn irreal in seiner Zeit.

Kienzls Musik ist auf Wirklichkeit angelegt und kann durch eine solche Inszenierung nur gestört werden. Musik, die des Menschen Entwicklung zur Größe begleitend spüren und erleben läßt, bleibt in unvereinbarem Gegensatz zu einer Regie des Verfalles der Persönlichkeit.

Der Autor, Jurist und Sozialwissenschaftler, ist Präsidialvorstand im Verfassungsgerichtshof.

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