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Zeitloses Mysterienspiel

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Ältere Wiener Theaterfreunde entsinnen sich sehr wohl noch des großen Abends, an dem — es mag an die zwanzig Jahre her sein — am Volkstheater Jerome K. Jeromes „Der Fremde“, eine „Legende von heute“, zum ersten Male in Szene ging. Bedeutete dieser Abend doch einen jähen Gipfel in den Niederungen damaliger Spielpläne und brachte überdies die Überrraschung, dem unter den „Humoristen“ registrierten englischen Romanschriftsteller in einer Bühnendichtung von ungewöhnlich hohem sittlichem Ernst zu begegnen. Wenn nun die Stephans-spieler wieder nach diesem Stück greifen, so folgen sie damit getreulich ihrem Programm, nämlich der „Darstellung seelischer religiöser Problematik“. Sie haben es nicht nötig, die Dichtung „zurückzuspielen“, wie man in der Theatersprache sagt, wenn, um dem „Verstaubt!“ des Publikums zuvorzukommen, durch Kostüm und Dekoration die nicht bloß zeitliche, sondern auch gefühlsmäßige Distanz angedeutet werden soll, die uns von älteren Bühnenwerken häufig schon trennt. „Der Fremde“ ist immer noch eine Legende von heute, so gut wie er eine von gestern war und eine von morgen sein wird, und so hat die Zeitangabe „Gegenwart“ auf, dem Theaterzettel der Stephansspieler die gleiche Berechtigung, die sie auf jenem des Volkstheaters vor zwei Jahrzehnten hatte.

Die Legende spielt in einer Londoner Pension, in den Kreisen jener guten oder zumindest besseren „Gesellschaft“, der man die Anführungszeichen nicht ersparen kann, wenn man von ihr redet. Da gibt es in buntem Durcheinander anrüchige Geldleute, fragwürdige Spekulanten, herabgekommenen Kleinadel, da lernen wir eitle und übersdiminkte Weiber kennen, verbummelte Künstler, Eheleute, aus deren Liebe längst Haß geworden ist und die nur noch in dem Bestreben einig sind, ihre hübsche Tochter dem meistbietenden Lüstling zu verkuppeln, eine in jeglicher Beziehung verschlampte Magd, die maßlos geizige Pensionsinhaberin, die ihre Gäste beharrlich durch falsche Rechnungen betrügt. Gier nach Geld, Gewohnheit des bedenkenlosen Geschäftemachens, Lasterhaftigkeit, böser Klatsch und Verleumdung treiben in der höchst fadenscheinigen Vornehmheit dieses Hauses üppig ihre giftigen Blüten, und sogar kleine Diebereien sind an der Tagesordnung.

Ein einziges Zimmer im Hause steht noch leer, ein Hinterzimmer des letzten Stockwerks, so schlecht, daß es unvermietbar ist. Da meldet sich auch für dieses ein Gast, ein seltsamer Fremder, der sich einen „Wanderer“ nennt. Man empfängt ihn mit Mißtrauen und Spott, seine Kleidung und sein Gehaben erwecken Bedenken, ob er wohl zur „Gesellschaft“ passe. Aber alsbald stehen alle unter seiner rätselhaften, sanften Gewalt, gegen die keine Auflehnung möglich ist. Jeder fühlt sich von ihm erkannt und durchschaut bis in die letzten Falten des Herzens, mancher glaubt nun, ihm schon einmal begegnet, ja ihm einstens aufs innigste verbunden gewesen zu sein, doch erinnert sich niemand, wo und wann das gewesen sein könne, vielleicht nur in Träumen. Das Unbehagen, das seine Anwesenheit zunächst hervorruft, weicht rasch einem unsagbar beglückenden Gefühl. Unmerklich wirbt er um jeden einzelnen, nicht mit Mahnungen und Belehrungen, geschweige denn mit Tadel oder Vorwürfen, sondern mit Verstehen und stillschweigendem Verzeihen, mit Wohlwollen “und Vertrauen und mit einer grenzenlosen Güte, vor der aller Trotz schwindet. Das ist kein ungestümes Rütteln an den verschlossenen Türen der Herzen,' sondern ein leises Pochen, kein v einlaßforderrides Rufen, sondern ein behutsames Fragen, ein zartes Erinnern an die vergessenen Zeiten seelischer Reinheit. Aber welcher mächtige Widerhall wird damit geweckt! Alles' Gute, das in diesen Menschen immer noch schlummerte, ist nun wieder wachgerufen, | sie haben das Glück der opferbereiten Liebe wiedergefunden, den Glauben an ihre alten Ideale, das Bewußtsein ihrer Menschenwürde. Hier ist alles Verworrene entwirrt, wenn sich der Fremde zu neuer Wanderschaft verabschiedet. Wohl ahnt mancher dieser Erlösten, wer der Erlöser ist, doch kommt niemandem sein Name über die Lippen. Es ist einer der schönsten Züge der Dichtung, daß die Magd, dieses tief erniedrigte Geschöpf, das weit äußerhalb der „Gesellschaft“ steht und niemals eines Schimmers von Glück Teilhaft wurde, vom wärmsten Strahl seligen Erkennens erleuchtet wird, und es. führt zu einem der ergreifendsten Augenblicke des Abends, wertn der „Fremde“ gerade ihr und ihrer seelischen Not die weitgeöffneten Arme liebreich entgegenstreckt. “ Es geht natürlich keineswegs um die Frage, ob uns diese Bühnenvorgänge zum glaubhaften Erlebnis zu werden vermögen. Wer, etwa verleitet von der Trivialität des für den Eintritt wunderbarer Ereignisse so gar nicht geeigneten Schauplatzes uod Milieus, diese Frage ernsthaft erheben wollte, würde damit nicht bloß das Wunder, „des Glaubens liebstes Kind“, vorweg verleugnen, er würde auch dem Theater das Anrecht auf eine seiner Lieblingsaufgaben, ja vielleicht auf seine einzige Aufgabe absprechen: Uns Träume zu schenken, uns Visionen zu bescheren, uns mit holder Unwtrklichkeit zu beglücken.

Gelegentlich ihrer ersten Wiener Aufführung wurde gegen die Legende eingewendet, es mangle ihr an handfestem Geschehen. Freilieh belebt ihre Handlung die Bühne nicht mit heftigen Ereignissen und lauten Gefühlsausbrüchen. Das Mysterium vollzieht sich in stillen Herzkammern, gleichwie bei Meli in seinem „Apostelspiel“ und im „Nachfolge-Christi-Spiel“, aber es ist gerade darum übermächtig und geadelt von einem hochfliegenden Gedanken.

Aach den Stephaasspielern brachte „Der Fremde“ einen großen, von vielem Beifall begeistert bedankten Theaterabend und die Ergriffenheit des Publikums wm unverkennbar. Die Dichtung wird in einer schönen, gerundeten Aufführung gezeigt, cfie von der inbrünstigen Hingabe der Spielleitung und aller Darsteller getragen wird. Der Spieler des „Fremden“ bringt die geistige Würde mit, ohne welche die Wirkung des ganzen Abends gefährdet wäre.

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