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Exkurs über die Familie

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Vorgestern am frühen Vormittag blätterte ich in einer deutschen Zeitung und sah auf raschelndem Papier den merkwürdigen Ausdruck „bürgerliche Familie“ abgedruckt. Ein trefflicher Schriftsteller und melancholisch milde waltender Familienvater zeigte sich in einem Artikel schriftlich erfreut darüber, daß ein Schauspiel die „bürgerliche Familie“ endlich als einen monströsen Unsinn entlarvt hat.

Ich dachte nach, während der plötzlich angekommene weihnachtliche Föhn an den Fensterscheiben vorbeisurrte, dachte in zwei Richtungen.

Was ist eine „bürgerliche Familie?“ so lautete die erste Frage. Worin unterscheidet sie sich von der proletarischen Familie oder von der feudalen? Was an der bürgerlichen Familie ist „bürgerlich“? Vielleicht eine gewisse Vorherrschaft des Ehemannes? Das ist ja in den Familien der Arbeiterklasse auch nicht anders. Oder die Praxis, auf dies und jenes Rücksicht zu nehmen und nicht gleich alles auszusprechen? In Kreisen des Adels wurde es genau so gehalten.

Oder dachte mein Freund, der Schriftsteller, an Geldgier, an Verstellung, an eine gewisse Rücksichtslosigkeit den Kindern gegenüber? Solche traurige Untugenden und zuweilen auch Verbrechen sind weder bürgerlich noch unbürgerlich. Sie sind Symptome der Unmenschlichkeit. Der Lieblosigkeit. Man findet sie in allen Gesellschaftssystemen dieser Welt; sie waren - soweit bekannt - selbst dem Matriarchat der Urzeit nicht ganz fremd.

Also - warum wettert dann mein Freund ausgerechnet gegen die „bürgerliche“ Familie? Offenbar aus zwei Gründen. Erstens, weil er unser ZeitaU ter und unser System für ein „bürgerliches“ hält (was es nicht ist), an Bürgerlichkeit kränkelnd (es krankt an ganz anderen Übeln). Und zweitens, weil er die Familie an sich als eine suspekte Formation betrachtet, da sie - so einfach ist das - besteht, zum Bestehenden gehört. Gerade dieses aber, das Bestehende, soll beseitigt werden. Die radikale Kritik an der Familie hat ja keine sachlichen Ursachen. Sie entspringt der Überzeugung, alle Institutionen ändern zu müssen - und also dann warum nicht auch die Familie?

Der Vormittag war still, ich dachte weiter; die Gedanken wandten sich in eine neue Richtung; ich versuche, sie aufzuzeichnen.

Die Kritik der bestehenden Verhältnisse richtet sich -wie bekannt - gegen die Atomisierung der Gesellschaft, gegen die Vereinsamung, gegen die Kontaktlosigkeit des einzelnen. Sie richtet sich zugleich gegen die extreme Arbeitsteilung, denn: der umfassendere Humanismus muß untergehen in einer Gesellschaft der einseitigen Spezialisten. Solches Spezialistentum führt auch noch zur Entfremdung, denn -nicht wahr?! - der Einzelne ist nicht mehr in der Lage, den gesamten Arbeitsprozeß zu überblicken und also muß ersieh zangsläufig jener Ware entfremden, die er produziert. Zugleich ist alles auf Profit gerichtet, der Mensch denkt nur an das Verdienen, er verliert die Fähigkeit uneigennütziger, sozial motivierter Regungen.

So, ungefähr, lautet eine kleine Gruppe der kritischen Argumente. Und wenn sie wirklich zutreffen, ja wenn dann lobe ich mir die Familie, ob sie nun bürgerlich ist oder nicht.

Denn, siehe da, die Familie läßt die extreme Vereinsamung nicht zu, schafft, elementare Kontakte, verhindert jene völlige Atomisierung der Gesellschaft. Die Familie als Ganzes kennt auch kein Spezialistentum: sie beschäftigt sich mit dem Heilen von Kranken, mit der Erziehung von Kindern, mit der Versorgung der Alten, sie funktioniert als Gasthaus und als Hotel, sie bietet in manchen Fällen sogar lebendigen Geschichtsunterricht und wirkt psychotherapeutisch.

Die Entfremdung vom Produkt ist in der Küche aufgehoben: der Arbeitsprozeß des Kochens ist überschaubar und jede Köchin ist in der angenehmen Lage, das eigene Gulasch zu genießen. Im zwischenmenschlichen Verhältnis der Familienmitglieder herrscht zudem meistens nicht die Profitgier. Eine gewisse Liebe oder Zuneigung, vielleicht aber auch nur die Gebote bestimmter Sitten sorgen dafür, daß der eine dem anderen uneigennützig hilft. Folglich ist die Familie ihrer Natur nach die Keimzelle des Widerstandes gegen eine geldgierige, arbeitsteilige Gesellschaft der Vereinsamung und der Entfremdung.

Es müßte also in der Debatte über die gegenwärtige Einrichtung der Familie iogischerweise zwei Meinungen geben, die einander gegenseitig ausschließen: die Verteidiger der herrschenden bösen Verhältnisse müssen die Familie bekämpfen, die Feinde des angeblich „bürgerlichen“ Systems müssen die Familie verherrlichen.

Ist es so? An diesem Punkt mußte ich unwillkürlich den Kopf schütteln. Der Vormittag war still, immer noch. In dieser Stille wagte ich, folgende, den vorangegangenen Gedankengängen durchaus angemessene Fragen zu stellen:

Könnte es sein, daß die Feinde der Familie zugleich Anhänger einer geldgierigen, arbeitsteiligen, inhumanen Gesellschaft sind? Wollen sie die Familie am Ende nur aus dem einen Grund abschaffen, um ihr System der neuen Vereinsamung und Entfremdung leichter einführen zu können? Und kann es sein, daß mein Freund auf jenem raschelnden Zeitungspapier der blanken Reaktion milde Hilfe leistet, freilich ohne es zu wollen?

Ich beschloß, gelegentlich um Aufklärung zu bitten.

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