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Fromme Lügen

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In wenigen Tagen wird sich zum 65. Mal das Datum jähren, zu dem Kaiser Karl auf .jeden Anteil an den Staatsgeschäften“ verzichtet hat. Einen Tag später, am 12. November 1918, wurde auf der Rampe des Parlaments die Republik ausgerufen.

Daß im Verlauf eines Tumults Rotgardisten den Parlamentsdienern die zwei zum Aufziehen bestimmten rotweißroten Fahnen entrissen, die weißen Streifen herausrissen und im Namen der Revolution die roten Restfahnen hißten, ist weithin bekannt — daß gleiches im März 1938 geschah und rote Fahnentuchreste zu Hakenkreuzbannern zusammengefügt wurden, schon nicht mehr.

Beide Symbolhandlungen waren, wie die Geschichte erwies, irreführende Signale. Österreich wurde, was es ist, ohne blutige Revolution und trotz, nicht dank Hitler. Das wissen wir ebenso zu schätzen wie die späte Verwirklichung der Anregung des letzten kaiserlichen Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch, Österreich solle sich nach Schweizer Vorbild einer Politik immerwährender Neutralität verschreiben.

Eine ganz andere Frage ist, ob Österreich wirklich eine Republik geworden ist, also Macht unver- erbbar gemacht und Standesvorrechte abgeschafft hat. Haben nicht die politischen Parteien im Lauf der Geschichte Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, ja selbst viele Privatbereiche habgierig in Besitz genommen?

Wir gewahren noch immer das fassungslose Verwundern auf vielen Politikergesichtern, wenn vom Privilegienabbau die Rede ist. Wir erleben das frivole Spiel mit der Versuchung, Politikerimmunität zur Verdunkelung von Rechtsfragen zu mißbrauchen, die dringend öffentlicher Klärung bedürfen. Wir registrieren, wie eine politische Partei in quasireligiösen Weiherang gehoben wird.

Mit Recht hat der Salzburger Politikwissenschafter Franz Horner am 4. November in den „Salzburger Nachrichten“ sein Erstaunen darüber geäußert, wie widerspruchslos die Öffentlichkeit das Bekenntnis des schwedischen Sozialistenführers Olof Palme hinuntergeschluckt hat, der für den Satz „Ohne die Partei sind wir nichts, mit der Partei sind wir alles“ lauten SPÖ-Parteitagsbeifall erntete.

Die Partei als Schöpfungsmacht, Rechtsquelle und Sinnstifterin: welch eine Perversion des Republikgedankens!

Eine fromme Lüge wäre es freilich auch, politisches Fehlverhal- ten nur in einer einzigen Partei zu suchen. Die gehässigen Exzesse in der Schlußphase des niederösterreichischen Wahlkampfes, der schrille Lärm wechselseitiger Verunglimpfungen, Unterstellungen und Pauschalverdächtigungen waren eine Verhöhnung des kurz zuvor zu Ende gegangenen Katholikentags.

„Toleranz, Kompromißbereitschaft und friedliche Konfliktaustragung“, Anerkennung des „guten Willens auch beim politisch Andersdenkenden“, Konsenssuche über alle Konfrontation hinaus waren in allerlei Katholikentagsdokumenten gelobt worden. Und dann diese Schlammschlacht!

Das aber führt bereits auf weiteres Glatteis: zur notwendigen Feststellung nämlich, daß selbstverständlich auch der österreichische Katholikentag 1983 keine spektakuläre Bekehrung der österreichischen Christenheit gebracht hat. „Selbstverständlich“ deshalb, weil Umkehr, Läuterung, Neubeginn im Regelfall nicht Ergebnis einer Damaskus- Stunde, sondern Frucht eines

Prozesses sind, der vielleicht bei vielen Menschen anläßlich des Katholikentages eingesetzt hat, aber noch lange nicht zu Ende ist, nicht zu Ende sein kann.

Aber auch in der Kirche steht die fromme Lüge bisweilen hoch im Kurs. In einer Zeit der großen Verunsicherung, ja Verängstigung ist die biedere Selbsttäuschung besonders gefragt.

Diese lautet im Moment: Der Papst war ein so umwerfendes Erlebnis, daß sich jede Kritik daran (und gleich auch am ganzen Katholikentag) als kleinliche Nörgelei verbietet!

Ja, der Papst war ein Elementarereignis — auch in und für Österreich. Ja, der Katholikentag war als Chance für einen neuen Anfang besser, als man erwarten und erhoffen durfte.

Aber viele Fragen sind offengeJ blieben, manche dazugekommen, viele Probleme noch ungelöst. Wer das ausspricht, muß nicht ein übelwollender Spielverderber sein, der die schöne Aufbruchstimmung kaputtmacht.

Wenn es eine Aufbruchstimmung gibt, kann sie von mitfühlender, auf Vervollkommnung bedachter Kritik nur profitieren. Wenn Kritik schadet, ist die Aufbruchstimmung gar nicht da, sondern man hat bequeme Euphorie mit einer solchen verwechselt.

Von „frommen“ Lügen war die Rede: weil es sich in allen diesen Fällen nicht um bewußte Täuschung handelt, sondern um das schleichende Wachstum einer das Gewissen beruhigenden Selbsttäuschung, die von einem bestimmten Punkt an zur Gefahr wird.

Nicht mehr fromm, sondern schon schamlos ist dagegen die Lüge, die PLO kämpfe für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Sie zerfleischen einander in einem brutalen Machtkampf und lassen das Volk mit Tausenderi Toten und Krüppeln Zahlen.

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