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Digital In Arbeit

Für Gespräch der Feinde

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Ändern müßte sich natürlich einiges im politischen System. Nicht nur die Wirtschaft - sie allerdings besonders - muß sich den vielfältigen neuen Herausforderungen stellen.

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Ändern müßte sich natürlich einiges im politischen System. Nicht nur die Wirtschaft - sie allerdings besonders - muß sich den vielfältigen neuen Herausforderungen stellen.

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Natürlich werden wir von den (noch vorhandenen) Ressourcen und den Früchten unserer Arbeit leben. Die Zahl derer, die von der Arbeit anderer leben müssen, wird morgen ungleich größer sein, die Zahl jener, die nach dem Schelsky-Buchtitel „Die Arbeit tun die anderen“ es sich richten möchten, hoffentlich kleiner. Auf die Dauer wird es unmöglich sein, mehr ein- als auszuführen und aus dem Fremdenverkehr einzunehmen, in den öffentlichen Haushalten mehr auszugeben als einzunehmen oder schließlich mehr zu produzieren als gebraucht, mehr anzuschaffen als bezahlt werden kann.

Wenn wir morgen unser Leben nicht nur fristen, sondern menschenwürdig leben wollen, müssen wir zu einer viel ernsteren Auffassung von Arbeit vordringen: Arbeit an uns selbst, Bildung ein Leben lang, Sozialarbeit, Entr wicklungshilfe, Friedensarbeit. Die größere Freizeit, die Armut und Hilfsbedürftigkeit rund um uns und in der Dritten Welt werden uns noch mehr durch freiwillige Sozialarbeit zu einem sinnerfüllten Leben führen.

Gleiches gilt für die Entwicklungshilfe, wenn sie morgen weniger in Krediten, die zu unerträglicher Verschuldung führen, sondern in Hilfe zur Selbsthilfe besteht. Die Friedensarbeit, die im Hause beginnen und in der Nachbarschaft wie in den kleinen Gemeinschaften erprobt werden muß, kann desgleichen zu Sinn und Wirkung führen, wenn sie von ideologischen Einseitigkeiten freigehalten wird.

Wir werden weiterhin vom Brote, aber „nicht allein vom Brote“ leben müssen, sondern von einem neuen ganzheitlichen, systemhaften und ökologischen Denken; von unserer Fähigkeit und Entschlossenheit zur Unterscheidung der Geister zwischen Gut und Böse, Sein und Haben, Nurverändern und Verbessern; von einem verstärkten Denken in Partnerschaften, Subsidiaritäten und Komplementaritäten.

Vom „Gespräch der Feinde“ (F. Heer) und von der „Kunst der Versöhnung, die mit der Kriegskunst nicht Schritt gehalten hat“ (F. Buchman) wird unsere Zukunft abhängen; von unserer Verantwortungsbereitschaft, Zivilcourage, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft, wo immer wir in Positionen der Macht und des Einflusses berufen werden; von unserer Entschlossenheit, schon den Anfängen zu wehren, wenn in unserem Verantwortungsbereich ein Mißbrauch der Macht, der Sprache, der Propaganda erkennbar wird.

Schließlich aber wird es auf unsere persönliche Entscheidung für einen Lebensstil der Bescheidenheit und Sparsamkeit ankommen, um beim Teilen mit den Bedürftigen im engeren Umkreis, im eigenen Land oder in der Dritten Welt Not lindern zu können.

Wir werden morgen aber auch von einer neuen Politik leben müssen, die das Wohl des Landes und all seiner Bürger und nicht nur jenes der eigenen Familie, Partei oder Interessengruppe im Auge hat; die dem Konsens statt der Polemik und der Skandalisie-rung den Vorzug gibt; die den Korruptionisten, Postenjägern und Faulpelzen rechtzeitig das Handwerk legt und die nicht Unerfüllbares verspricht.

Diese Politik müßte sich zur Sachlichkeit und Redlichkeit und — wenn nötig — auch zur Unpopu-larität mancher Maßnahmen bekennen. Sie müßte dem Schulden-und Defizitemachen ein Ende bereiten und damit aufhören, mit sozialer Zwangsbeglückung auf Wählerfang auszugehen.

Die Bewahrung der Kulturlandschaft, gesunder Wälder, Gewässer und Böden müßte diese Politik endlich ernstnehmen. Und nicht zuletzt müßte sie — komplementär zur Politik des Intellekts und der Nützlichkeit - eine Politik des Herzens sein. Auch für sie gilt das Wort von Erich Fromm: „Zum erstenmal in der Geschichte hängt das Uberleben der Menschheit von einem radikalen Verändern der Herzen ab.“

Viele Stimmen und Zeichen sprechen endlich dafür, daß wir einer Wiederkehr des Wahren, Guten und Schönen sowie des sittlichen und religiösen Lebens entgegensehen dürfen. Alexander Solschenizyn — wer wäre glaubwürdiger? - sagte 1978 in seiner schon weithin vergessenen Rede in Harvard (USA): „Ich ziehe nicht den Fall einer universalen Kriegskatastrophe in Betracht; aber es gibt eine Katastrophe, die schon in beträchtlichem Umfang eingesetzt hat: Das ist die Katastrophe des religionslosen Bewußtseins.“

In vielen Ländern, in unzähligen Basisgruppen, von maßgeblichen Autoren und Staatsmännern vernehmen wir die Sehnsucht nach einer neuen Religiosität, Sinnhaftigkeit und Werterfüllt-heit. Mit ihnen teilen wir den Glauben an die Erneuerungsfähigkeit des Lebens, an die Wiederkehr des strengen Gewissens und der Hierarchie der Werte.

So dürfen wir mit Ernst Jünger „hoffen, daß die Werte sich im Abgrund sublimieren und neu gefaßt werden.“

Der Autor ist Altbundeskanzler.

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