Über die Frage des „Seins“.
Durch eine glückliche Fügung durfte ich einer Tagung zum christlich-jüdischen Gespräch in einem deutschen Stift beiwohnen. Ein liberaler Rabbiner aus Berlin sprach über die Vorzüge des reformierten Judentums, die mit denen des reformierten Christentums in gewissem Einklang stünden. Dabei appellierte er an die vielen Judentümer des Judentums, da es „das“ Judentum ja schließlich gar nicht gibt.
Doch wie wissen wir dann – so wurde er gefragt –, welches dieser vielen Judentümer noch zum Judentum gehört? Gibt es denn ein Grenze, wo ein Judentum aufhört Judentum zu sein, und wo sollte ein liberaler Rabbiner diese ziehen? Darauf erwiderte der Rabbiner mit pragmatischer Einsicht, dass sich diese Grenze eben immer wieder verlagerte und dass ein Judentum sich immer erst in Zukunft, sozusagen im Nachhinein bewähren müsse. Und er bezog sich (wenn auch unwissentlich) auf die Worte des großen Talmudgelehrten Adin Steinsalz, der einmal gesagt haben soll, eine Jude sei nicht, wessen Eltern oder Großeltern, sondern wessen Enkelkinder Juden seien.
In diesem Satz lag mir schon immer viel Wahrheit, denn er zeigt die völlige Absurdität des Rassendünkels, aber auch die prinzipielle Schwierigkeit des jüdischen Gesetzes, welches jüdisches Sein zunächst nach mütterlicher Herkunft bestimmt. Doch wirft er andere Probleme auf. Denn war Moses Mendelssohn nach diesem Maßstab Jude?
Vielleicht liegt das Problem nicht so sehr an der Frage der Herkunft oder der Zukunft, sondern an der Frage des „Seins“ überhaupt. Ob nämlich dieses „Sein“ sich ganz ablösen lässt von Leben und Tun, und ob das Judentum, von dem Franz Rosenzweig einmal ganz lässig sagte „Man ist es“, nicht auch nach einem „Man tut es“ verlangt. Tut man es aber, so stößt das Judentum an genau das, was der liberalen Tradition unheimlich ist: Grenzen.
Der Autor ist Professor für moderne jüdische Philosophie an der University of Virginia, USA.
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