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Grenzen des Wandels

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Dieses Buch enthält Momentauf-nahmen der politischen und wirt-schaftlichen Entwicklung der letzten 10 bis 15 Jahre in vier kommunistisch regierten Ländern des Donauraumes: Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien, aufgezeichnet von Paul Lendvai, dem Chefredakteur der an-spruchsvollen „Europäischen Rund-schau” und Korrespondent der ange-sehenen Londoner „Financial Times”, ein - wie viele ambitionierte Interpre-teri dieses Landes - österreicher freier Wahl, der sein ungarisches Vaterland im Schicksalsjahr 1956 verlassen muß-te.

Der Autor hat den Kommunismus in Theorie und Praxis seit 1956 studiert, stets versucht, gefahrliche Verein-fachungen zu vermeiden, und spricht von der Freiheit wie einer, der das Ge-genteil davon selbst erlebt hat.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Entwicklung in den einzelnen Län-dem sieht der Autor doch die Grenzen des Wandels sehr nüchtern: es gibt keinen gangbaren mittleren Weg zwischen Diktatur und repräsentativer Demokratie; das kollektive,Eigen turn an den Produktionsmitteln, die Liqui-dierung des Privateigentums und die Unterdriickung der besitzenden Klassen haben weder eine funktionsfahige Wirtschaftsordnung geschaffen noch das soziale Problem definitiv gelöst. Da das „Wertgesetz” durch eine Ver-zerrung aller Lohn- und Preisrelatio-nen ersetzt wurde und die Preise nicht mehr die Werte der Waren widerspie-geln, bewirken die Entscheidungen der zentralen Planungsstellen im Ge-strüpp der irrealen Preise oft das Ge-genteil des Erstrebten. Statt der „klas-senlosen Gesellschaft” gibt es eine privilegierte „neue Klasse”. Als massive Bremse wirkt der Selbsterhal-tungswille der Biirokratie. Wenn man die osteuropäischen Länder bereist, ihre reglementierte Presse liest und mit den Menschen spricht, muß der Reisende immer wieder denEindruck gewinnen, daß im Westen bei alien Schwächen und Widerspriichen doch mehr wahre Menschlichkeit und indi-viduelle Freiheit realisiert wird als selbst in den „freiesten der unfreien Gesellschaften”, etwa in Jugoslawien oder in Ungam. In keinem kommunistisch regierten Land gibt es einen „unkontrollierten” Zustrom der Ideen und Informationen.

Dem Autor bleibt lediglich die Hoff-nung auf realisierbare, fast alltägliche kleine Schritte, die den Grad der na-tionalen und politischen Unterdrük-kung reduzieren könnten. Nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die an-deren Oststaaten sind gegenüber der Weltöffentlichkeit anfâlliger geworden. Der Druck von außen hat sich nach den Konferenzen von Helsinki und Ostberlin starker erwiesen, als man das in Moskau wahrscheinlich vermutet hat. Die größte Gefahr für alle diese Systeme ist der Dilettantis-mus der Entscheidungsträger in den Schaltzentralen der Macht, die jedeauf Fortschritt abzielende Idee als tödli-che Gefahr empfinden.

DIE GRENZEN DES WANDELS, SPIELARTEN DES KOMMUNISMUS IM DONAURAUM. Von Paul Lendvai.Europaverlag,Wien 1977,398 Seiten, oS 198,-.

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