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Großer Bruder

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Österreich nahm Abschied von seinem Staatsoberhaupt, das Bundesheer von seinem Oberbefehlshaber. Der dem spanischen Hofzeremoniell nachempfundene Kondukt gab den Begräbnisfeieriachkeiten für ein republikanisches Staatsoberhaupt einen längst in die Erinnerung verbannten militärischen Anstrich. Dabei trat das demokratische Verteidigungsinstrument nur mit einem Fuß auf, was die Frage provoziert, ob der zweite fehlt.

Die Heeresreform, die in einem dem Parlament vorliegenden Bericht über den Stand der militärischen Landesverteidigung als die logische Konsequenz der Wehrgesetzänderung in der sozialistischen Minderheitsregie-rung bezeichnet wird, steht vorerst allzu sehr auf dem Fuß der Bereitschaftstruppe. Wohl hat sich durch die von SPÖ und FPÖ im Sommer 71 beschlossene Änderung des Wehrrechtes nicht die geopolitische Lage Österreichs und damit die Grundidee der nationalen Verteidigung geändert. Sie sieht auch im aktuellen Modell eines Wehrkonzeptes sofort verfügbare Einsatzverbände, die sogenannte Bereitschaftstruppe, vor. Diese Neutralitätsfeuerwehr ist im Prinzip nichts anderes als die bisherigen, wohl nicht voll aufgefüllten Einsatzbrigaden. Auch die allmählich zu einer Gesamtraumverteidigung hinorientierte neue Landwehr stellt kein Novum dar. Unbestritten ist, daß die wehrrechtlichen Voraussetzungen aus der Koalitionsära diesen Vorstellungen nicht angepaßt waren. Den Reformern schien der Kaufpreis, den die alte Wehrstruktur beim Steuerzahler und Präsenzdiener einhob, zu hoch. Für sie produzierte die alte Wehrstruktur nicht jene ausreichende Zahl an zielgerichtet ausgebildeten Infanteristen für die Landwehr. Anderseits lieferte das System Waffenspezialisten in einem Ausmaß, daß für sie im Reserveheer keine sinnvolle Verwendung zu finden war. In der Tat hat die Wehrungerechtigkei't der alten Wehrstruktur der Verteidigungsbereitschaft in der jungen Generation einen Bärendienst erwiesen. Viele Reservisten mußten in der kurzen Zeit ihrer Wiederholungsübungen erst auf die Reservefunktion umgeschult werden. Der abgeleistete Prä-senzdiens't war über weite Strecken wertlos geworden. Daraus ist leicht verständlich, warum der Ruf nach einer verkürzten Dienstzeit über das umstrittene Leerlaufargument hinaus Zustimmung fand.

Die von der neuen Wehrgesetzgebung vorgenommene Teilung des Wehrdienstes erscheint nun prinzipiell richtig; allerdings müßte die Wahlmöglichkeit zwischen der vollen Länge des Wehrdienstes und einem Grundwehrdienst mit darauf folgenden Wiederholungsübungen auf die Notwendigkeiten des Systems eingeengt sein. Sonst besteht Gefahr, daß auch die neue Wehrstruktur den falschen Mann produziert. Die Ausgewogenheit zwischen sogenannten „Durchdienem“, also jenen, die die volle Dienstzeit mit einem Schlag abdienen und jenen Wehrpflichtigen, die durch eine sechsmonatige Grundschulung die Basis für eine spätere Verwendung

in der Landwehr erworben haben, ist im Fall der freien Wahlmöglichkeit schwer zu regulieren. Hinzu kommt, daß in der gegenwärtigen Umstellungsphase die Militärs selbst ge neigt sind, dem „Durchdiener“, weil länger kontinuierlich verwendbar, den Vorzug einräumen. Der acht-Mo-nate-Soldat hilft vor allem jene Lücken schließen, die durch eine noch immer nicht voll befriedigende Zahl an freiwillig Längerdienenden in der Berei'tschaftstruppe vorhanden sind. Diese personellen Lücken schlagen aber negativ bei der Landwehr zu Buch, da der Durchdiener für das Reserveheer für immer verloren ist. Mag eine erste Bilanz der Einsatzbereitschaft des reformierten Heeres auch eine erhöhte Präsenz der Einsatzverbände ausweisen, muß dafür das Manko in Kauf genommen werden, daß die Landwehr, als eigentliches Kind der Reform den Kinderschuhen noch nicht entwachsen ist.

Gerade von dieser territorial abgestützten Truppe erwartet man aber jene Verankerung des Wehrgedankens in der Bevölkerung, die im bisherigen Mischsystem zwischen Ausbildungs- und Einsatzverbänden ausbleiben mußte. Erst die räumliche Fixierung des Wehrgedankens kann die Hürde meistern, an der das anonyme System der alten Wehrstruk-tur zu scheitern drohte. Bei aller Notwendigkeit, die Neutralitätsfeuerwehr als Rückgrat der Raumverteidigung rasch aufzubauen, muß an den unteilbaren Auf baurhythmus beider Strukturelemente Rücksicht genommen werden. Bei der nicht nur der menschlichen Gemeinschaft, sondern auch künstlichen Strukturen innewohnende Dynamik würde der größere Bruder allzuleicht den kleineren Geschwisterteil unterdrücken.

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