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Im Zeichen der Vielfalt

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„Wenige Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges fand in einer Wiener Kaserne eine Rekrutenvereidigung statt. Sie erfolgte in zehn Sprachen und unter Mitwirkung der Militärgeistlichen von sieben Religionsgemeinschaften. Denn die Habsburgermonarchie war bekanntlich nicht nur ein .multinationales', sondern auch ein .multikonfessionelles' Reich.“

Mit dieser reizvollen Beobachtung eröffnet Adam Wandruszka den mit Spannung erwarteten vierten Band der von ihm in Ge meinschaft mit Peter Urbanitsch herausgegebenen Handbuchreihe „Die Habsburgermonarchie 1848-1918“. Er ist den Konfessionen — oder eigentlich: den Religionsgemeinschaften — in Cis- und Transleithanien gewidmet.

Auch wenn eine ekklesiologi-sche Begriffsbestimmung des Titels und die Auslotung des Verhältnisses von Konfession und Kirche/Religionsgesellschaft/ Denomination vermißt wird, so ist zu vermuten, daß in der Titelwahl eine Option für die sozialgeschichtlich wesentliche Fragestellung nach der praxis pietatis liegt, nämlich: Wie wurde der jeweilige Glaube unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts diesseits und jenseits der Leitha gelebt und artikuliert?

Man möchte hinter dieser Intention eine Alternative zur konventionellen Kirchengeschichtsschreibung erkennen. Unter den elf Mitarbeitern finden sich denn auch keine Kirchenhistoriker im engeren Sinn, sondern in erster Linie Fachhistoriker mit Forschungsschwerpunkt österreichische oder Ost- und Südosteuropäische Geschichte. So überwiegt in der Darstellungsweise die Institutionen- und rechtsgeschichtliche Methode, die allerdings durch sozialgeschichtliche Fragestellungen angereichert wird.

Die zitierte Rekrutenvereidigung vereinte die Militärseelsor ger römisch-katholischer, griechisch-unierter, griechisch-orthodoxer, evangelischer (A. und H. B.), armenischer, islamischer und mosaischer Konfession zum gemeinsamen Handeln. Es sieht so aus, als hätte diese Auflistung das Gliederungsprinzip des Buches bestimmt. Doch nicht die Konfessionen als solche, sondern das institutionelle Umfeld derselben, nicht der spezifische Glaube, sondern die aus demselben erwachsenen Kultusorganisationen werden in zehn mehr oder weniger ausführlichen, von Umfang und Qualität höchst unterschiedlichen Einzelbeiträgen dargestellt.

Nach einem äußerst knappen, auf sechs Seiten komprimierten einleitenden Essay des Herausgebers Adam Wandruszka „Katholisches Kaisertum und multikonfessionelles Reich“, bei dem man bedauert, daß er nicht zu einem Einzelbeitrag ausgeweitet wurde, folgt zunächst ein dreiteiliger, der römisch-katholischen Kirche in Cisleithanien (Peter Leisching), in Ungarn (Moritz Csäky) und bei den Kroaten (Ivan Vitezic) gewidmeter Block. Orthodoxe und Unierte behandelt sodann Emanuel Tur-czynski, die armenischen Kirchen Wolfdieter Bihl. Eine Studie von Friedrich Gottas thematisiert den Protestantismus in der Habsburgermonarchie.

Eine gewisse Sonderstellung nimmt Wolfgang Häuslers Skizze der deutsch-katholischen Bewegung in Österreich ein, handelt es sich doch dabei um die einzige staatsrechtlich nicht rezipierte Gruppierung, die gleichwohl in der Revolutionszeit 1848/49 über einen erheblichen Zuspruch verfügte, ehe sie in der Freidenkerbewegung aufging - anders die altkatholische Kirche (Hans Hoyer), die als erste aufgrund des Gesetzes von 1874 staatlich anerkannt wurde. Mit dem österreichischen Judentum „zwischen Beharrung und Fortschritt“ befaßt sich schließlich Wolf gang Häusler, mit den Mohammedanern in Bos-nien-Herzegovina zuletzt Ferdinand Hauptmann.

Eindrucksvoll bestätigt wird die These von der Multikonfessio-nalität des Habsburgerreiches durch eine von Peter Urbanitsch nach der Volkszählung 1910 erstellte Konfessionskarte, die diese These freilich auch relativiert, indem sie gerade in Cisleithanien die Vorherrschaft der römischkatholischen Kirche (1910: 79%) vor Augen führt. Anders in Ungarn, wo die Konfessionsstatistik ausgewogener war: 52,1% röm.-kath., 14,3% griech.-orth., 12,6% ev. H. B., 9,7% griech.-kath., 6,4% ev. A. B., 4,5% mosaisch.

Was diese empirischen Daten aber nur unzureichend vermitteln, ist das Maß der über den konfessionellen „Besitzstand“ hinausreichenden konfessionellen Prägung der Öffentlichkeit, des allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtseins. Will man nun den Berichtszeitraum zusammenfassend charakterisieren, so wird man, gerade was die Frage der kirchlich-konfessionellen Gebundenheit der Bevölkerung betrifft, an dem einsetzenden Erosionsprozeß nicht vorbeiblicken können. Der Staat, der wohl multikonfessionell, aber nicht überkonfessionell war, wird im Zeitalter des Liberalismus zu einem Selbstverständnis geführt, das dieser Entwicklung Rechnung trug.

Es gilt, dem vorliegenden Handbuch den größten Respekt zu zollen, nicht nur um der Fülle des ausgebreiteten Wissens willen, sondern auch, weil es dem aktuellen Stand der Forschung entspricht, ja diesen wesentlich erweitert.

DIE HABSBURGERMONARCHIE

1848-1918. Bd. IV: Die Konfessionen. Hrsg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch. Verlag der österr. Akademie der Wissenschaften. Wien 1985. 866 Seiten, 7 Falttabellen, 1 Faltkarte. Großoktav Leinen öS 896,- (Einzelpreis), öS 770,- (Fortsetzungspreis).

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