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Inflation der Kritik

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Das alte Sprichwort: Durchs Reden kommen die Leute zusammen, ist in unserer Zeit eine Halbwahrheit geworden. Denn es stimmt ebenso halb, daß durchs Reden die Leute auseinander-und durcheinander kommen, weil zu viele Leute dreinreden, denen man eingeredet hat, sie könnten überall mitreden.

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Das alte Sprichwort: Durchs Reden kommen die Leute zusammen, ist in unserer Zeit eine Halbwahrheit geworden. Denn es stimmt ebenso halb, daß durchs Reden die Leute auseinander-und durcheinander kommen, weil zu viele Leute dreinreden, denen man eingeredet hat, sie könnten überall mitreden.

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Es ist hier nicht vom Tratsch, Plausch, Stammtisch oder zufälligen Aussprachen die Rede, sondern von jener Art mündlichen Gedankenaustausches, der Einfluß nehmen will, weil er autoritative Beglaubigung vortäuscht. Die Phrase von der Mündigkeit des Staatsbürgers, die gewünscht werde und zu fördern sei, weil das einem besseren Demokratieverständnis helfe, bewirkt nur einen Substanzverlust der gezielten Kritik und führt — viele Veranstaltungen beweisen es — im günstigsten Fall zum Quatsch in schöner Gestalt. Man hausiert mit Zukunftsvisionen, etwa dem Ende der Neuzeit oder mit dem Untergang des Abendlandes oder dem Verlust der Mitte oder einer Entscheidung für morgen, zaubert die Schreckenswörter Angst und Krise auf die Projektionen der Horizonte und ist mit dem obligaten Begriff der Auflösung schnell zur Hand.

Es gilt als ein rechtes Gottesgeschenk, wenn einem Menschen beschert ist, wo er geht und steht, das Gespräch an sich zu reißen und zu beherrschen. Der glänzende Gesellschafter, der Meister der blendenden Konversation, der Salonlöwe, der seine rhetorischen Pranken nicht auf die Dekolletes der lauschenden Damen richtet, sondern mit liebenswürdigem Lächeln auch bei seinen Geschlechtsgenossen Beifall findet, ist ein gesuchter Zeitvertreiber, dessen Kapriolen faszinieren. Denn er versteht alles, weiß alles und ist in seiner Beschlagenheit unschlagbar. Seinem profunden Urteil kann man sich bedenkenlos anvertrauen.

Indes beitreibt er mit seinem Übersoll und Haben die Inflation der Kritik, die durch ihre Kasinoseichtheit wertlos wird. Kritik ist die Kunst der Beurteilung auf allen menschlichen Gebieten, Irrtum inbegriffen. Aber diese Erkenntnis, von Neugier und Wissensdrang getrieben, wird von den schwatzenden Engelszungen der Anekdotenverkäufer und Krimskramserzähler immer wieder niedergeschlagen, zumal es übler Brauch wurde, die Blabla-produzenten nicht mehr nur einzeln auftreten zu lassen, sondern in Scharen, die auf landplagende Tourneen gehen, um sogenannte Schaugespräche abzuführen. In einer solchen Gruppe von Übergescheiten geht es dann überhaupt nicht um gesunden Hausverstand und durchdachte Beantwortung von Sachfragen, sondern nur um den persönlichen Effekt, möglichst gut und oft gesehen zu werden. Das erzwingt die Inflation der Kritik.

Rudolf Bayr hat das Schaugespräch folgendermaßen formuliert: Der Terminus ist in sich so widerspruchsvoll wie es die Sache ist, die er bezeichnet. Denn ein Gespräch, zur Schau gestellt, das heißt doch — etwas akademisch ausgedrückt —, daß eine bestimmte Sinneswahrnehmung, nämlich eine akustische, einem anderen Aufnahmeorgan zugedacht ist als dem dafür spezifischen; daß gesprochene Sprache nicht auf das Gehör hin, sondern für das Auge gemacht ist.

Das ist, schlicht und einfach interpretiert: eine Blendung, eine Täuschung, eine Ablenkung. (Man vergleiche etwa „Die Welt des Buches“ im Femsehen mit der Hörfunksendung „Exlibris“.)

Gezielte Kritik geht von persönlicher Prüfung und Überlegung aus, der eine eigene Kenntnis zugrunde liegt. Das Schaiugespräch will wirken. Der Salonlöwe, auf die Bildschirme geworfen, weist sich in erster Linie nicht als Sachverständiger aus, sondern fragt selbstbewußt sekündlich: Na, wie bin ich? Bin ich nicht herrlich? Im und durch das Schaugespräch wird die Eitelkeit höher gezüchtet als die Intelligenz. Die Erscheinung gilt mehr als das Wesen.

Die Diskussion über die Misere der Kritik ist permanent. Die Kritiker nehmen an ihr teil mit nahezu masochistischer Freude, aber kaum einer zieht sich konsequent auf eine bescheidene Position zurück, die ihn für sein Fach besser qualifizieren würde als die angeeignete Präpotenz, die nur sich gelten läßt.

Im Schaugespräch gibt es keine Diskussion, bei der man auf den Partner und seine Meinung achtet, sondern fast immer nur den Monolog. Der eine Teilnehmer quatscht in diese Richtung, der andere* in die entgegengesetzte. Jeder wiM durch besondere Ausgefallenheit auffallen. Debatteoleiter haben es schwer, die Kontrahenten, auch wenn sie“ das Gleiche vertreten, auf eine gemeinsame Linie zu bringen. Denn die sich selbst zur Schau stellen, ermangeln der Gabe, dem anderen zuzuhören. Verwöhnt von ihrem Himmelsgeschenk, jedes Gespräch an sich zu reißen und zu beherrschen, sind sie nur noch von der eigenen Argumentation überzeugt, die in Agitation ausartet.

Das Wesen der Kritik; aber ist Zuordnung, nicht artifizieller Artikulationszwang. Daß jemand, der urteilt, auch dieses Urteil zu formulieren vermag, ist selbstverständlich. Aber die schmückende Arabeske darf nicht zur Hauptsache werden.

Allein der Vortrag macht des Redners Glück —: diese Feststellung verwandelte die Schindmähre des Trivialen zu einem Paradegaul, der im 19. Jahrhundert aufgezäumt wurde. Mit ihm versucht man im Schaugeschäft unseres redseligen Jahrhunderts noch einmal Staat zu machen. Aber es ist weis faul in diesem Staate. - Doch auch der tiefste Nebel, den ein Schau- und Sohaumgespräch verbreitet, löst sich einmal. Man muß nur Distanz einlegen und unbeeinflußt nachdenken. Man darf nicht dem Schwall verfallen und nachplappern.

Es gibt ein sicheres Zeichen, daß die Schaugespräche in die VerfaUs-rjahre geraten sind: ihr offenes Ende. (Ein gültiger Schluß findet sich kaum. Das Unverpflichtende läßt das Niveau sinken. Aber gerade diese •Niveaulosigkeit wird angestrebt und gepflegt, weil in dieser Niederung jeder quatschen kann, was er will.

Die Inflation der Kritik ist perfekt. Doch auch das alte Sprichwort: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, bat sich in eine Halbwahrheit verkehrt, weil Schweigen im allgemeinen Öffentlichkeitspiausch nicht geschätzt wird, indes reisendes Reden goldenden Boden hat.

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