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„Karnevals-Demokratie“?

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Genau 132 politische Gefangene zählte man in Portugal, als sich die Gefängnisse des gestürzten Regimes öffneten. Keine zwei Stunden später begannen sich ihre Zellen von neuem zu füllen — mit jenen, die die ersteren eingesperrt hatten: 1200 Geheimpolizisten der gehaßten PTDE, Angehörige der milizartigen Legion, ein paar Staatsbeamte und zwei Minister. Wenn diese Zahl richtig war, dann sind es jetzt 1201.

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Genau 132 politische Gefangene zählte man in Portugal, als sich die Gefängnisse des gestürzten Regimes öffneten. Keine zwei Stunden später begannen sich ihre Zellen von neuem zu füllen — mit jenen, die die ersteren eingesperrt hatten: 1200 Geheimpolizisten der gehaßten PTDE, Angehörige der milizartigen Legion, ein paar Staatsbeamte und zwei Minister. Wenn diese Zahl richtig war, dann sind es jetzt 1201.

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Vor wenigen Tagen wurde der erste Linksextreme eingelocht, Luis Saldanha Sanchez. Er ist der Direktor der Zeitung „Luta Populär“ (Volkskampf), ein Blatt der „Bewegung zur Reorganisation des Proletariats“. Die Zeitung veröffentlichte Tips, wie man aus der Armee desertieren könne — aus der gleichen Armee, die doch gerade das Volk von der Diktatur befreit hatte. Alles unter dem Motto: „Nicht ein Soldat

mehr für den Kolonialkrieg.“ Die Verhaftung von Saldanha Sanchez soll außerdem die politischen Streikführer warnen, die Arbeiter nicht weiter zu unerfüllbaren Lohnforderungen zu ermuntern. Schon jetzt hat die Revolution die ohnehin durch die Inflation angeschlagene Wirtschaft in ihre schwerste Krise seit Jahrzehnten getrieben.

Die neuen Machthaber stehen vor dem Dilemma der ersten Selbsterkenntnis. Sie entdecken, daß sie alle etwas anderes wollten, als sie sich zusammentaten: die 200 jungen Offiziere vom 25. April, General Spinola und seine Junta, die Politiker der provisorischen Regierung und die Parteien, die vor ihrem ersten echten Wahlkampf stehen.

Die Offiziere, die mit ihrem Putsch den Umsturz einleiteten, hatten von der politischen Neuordnung Portugals nur höchst vage Vorstellungen. „Wir verstehen uns alle“, sagte jetzt einer der jungen Hauptleute und Majore. Aber er gab zu, daß auch unter ihnen eine Linke, sogar eine radikale Linke existiert, daß die „Mehrheit jedoch rechts stehe“.

Der von ihnen auf den Schild gehobene Militärtribun, Präsident General Antonio de Spinola, hatte in seinem Buch, das die Revolution auslöste, geschrieben: „Wir bleiben in Afrika.“ Und seine Reformidee hat die Gleichberechtigung der afrikanischen Staaten Portugals und ihrer Bürger mit dem Mutterland zum Inhalt — nicht aber ihre Unabhängigkeit. Er wollte die Demokratie, nicht die sozialistische Gesellschaft. Für die Generale der siebenköpfigen Junta bildeten seine Thesen das politische Programm des neuen Staates. Offiziell gelten sie auch als die Marschroute der von den Offizieren eingesetzten und nur dem Militär und dem Präsidenten verantwortlichen provisorischen Regierung der Politiker und Fachleute.

Hier an dieser Stelle wird aber der Bruch des neuen portugiesischen Systems sichtbar: Spinola und die Junta verlangten in der Afrikafrage die Selbstbestimmung der Teil-

Staaten innerhalb eines multinationalen lusitanischen Staatensystems, dem anzuschließen auch Brasilien aufgefordert wurde. Man sollte annehmen, daß die aus dem Exil zurückgekehrten Politiker, die Spinola weinend umarmten — daß die neuen Minister nach ihrem feierlichen Ja zur Junta deren für sie maßgebliche Richtlinien auch bei ihren Verhandlungen mit den afrikanischen Bewegungen vertreten würden. Aber

manche handeln weiterhin so, als wären sie noch die Politiker der Opposition.

„Wir verhandeln hier als Sozialisten“, erklärte zum Beispiel Jorge Campinos, „Nr. 3“ der portugiesischen Delegation bei den Gesprächen mit der PAIGC. der „Afrikanischen Partei für die Unabhängigkeit Guineas und der Capverdischen Inseln“. Und die in der Presse veröffentlichten Programme aller Linksparteien sehen auch die Unabhängigkeit für die afrikanischen Gebiete vor. So wie Campinos verhandelte auch Überseeminister Almeido San-tos: offiziell im Namen seiner Regierung, in Wirklichkeit aber mit den Intentionen seiner Partei, deren Zielsetzung nicht mit der der Staatsführung übereinstimmt.

Die Junta wehrt sich nur verhalten. Ein Generai polterte gegen

die „Karnevals-Demokratie“, Chef Spinola warnte vor dem „Rückfall in eine neue Diktatur“ als dem unausweichlichen Ergebnis von Disziplinlosigkeit und Anarchie. Immerhin tastet sich Außenminister Mario Soares nach ersten Enttäuschungen durch seine Gesprächspartner, die Frelimo-Bewegung, zur Regierungserklärung der Junta zurück.

Im allgemeinen hat man den Eindruck, daß Guinea-Bissau aufgegeben werden wird, daß in Mocambique und Angola Volksbefragungen die Zukunft bestimmen werden, wobei Mocambique möglicherweise geteilt und Angola zumindest für eine Reihe von Jahren ein portugiesischer Staat in seiner jetzigen Dimension bleibt. Vieles hängt davon ab, wie Brasilien, das sowohl von afrikanischer als auch von portugiesischer Seite als eine Art Mittlermacht betrachtet wird, sich verhält.

Nicht nur die neue Industriemacht Brasilien zählt zu den interessierten Dritten in portugiesisch Afrika, sondern auch die NATO, deren Militärausschuß vor drei Jahren vorschlug, die südliche Grenze des NATO-Bereiches, derzeit am Wendekreis des Krebses, wesentlich weiter

nach Süden zu verlegen. Die NATO reagierte damit besorgt auf das ungenierte Vordringen der roten Flotte der Sowjetunion im Atlantik und im Indischen Ozean. Die von den Portugiesen ursprünglich der NATO angebotenen Stützpunktmöglichkeiten auf den Capverdischen Inseln drohen jetzt den Admiralen Moskaus in den Schoß zu fallen.

Die überraschte NATO dürfte Portugal deshalb darin bestärken, die Inseln, deren Bewohner mit der portugiesischen Souveränität vollauf zufrieden sind, nicht in eine ungefragte „Selbständigkeit“ zu entlassen. Die ausschließlich in Guinea, auf dem Festland operierende PAIGC hatte lediglich durch das C in ihrem Namen einen Anspruch auf die Inseln angemeldet. Ihr Führer, Pe-reira, erhielt seine politische Ausrichtung — und die Waffen für seine Guerrilleros — in Moskau. Offensichtlich rechnet aber auch Spinola mit einer Art Pax sovietica für seine Afrikapolitik. Immerhin, stellt die soeben angekündigte Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Portugal und der Sowjetunion einen sehr wichtigen Schritt in diese Richtung dar.

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