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Kopf und Herz

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Vor einiger Zeit ersuchte ich eine Gruppe Studenten älteren Semesters, mir anonym über ihre Vorstellungen zum Erfolg und Mißerfolg im Universitätsstudium zu berichten.

Das Ergebnis war erschütternd, ein allgemeines Unlustgefühl kam mir entgegen. Am Beginn des Studiums, so schreibt ein Student, voller Hoffnung, voller Erwartung. Endlich weg von dem Druck in der Mittelschule, endlich Freiheit, endlich was anderes, neue Leute, eine neue Umgebung... Und dann das Studium: Frontalunterricht, noch trockener als im Gymnasium, die einschläfernde Stimme des Vortragenden, unbequeme Bänke, ein Massenbetrieb, das ist Studieren ...?

Bestimmt wird sich in der oben gestellten Aufforderung die Kritik stärker profilieren als die Würdigung positiver Erlebnisse. Mit diesem Problem wird der Sozialwissenschafter wie der Journalist konfrontiert. Mehr denken und weniger Datengläubigkeit ist die einzige Lösung. Hinter diesen, vielleicht etwas übertrieben vorgetragenen Meinungen hegen aber persönliche Probleme, existentielle Probleme, die durchaus als eine Mene, Mene Te-

kel (Dan. 5, 25) gedeutet werden können. Mir wurde dies deutlich während der Diskussion; uns allen sollte es eigentlich deutlich sein, wenn wir bloß unsere Studenten sehen.

Es ist nicht genug, daß mit Hilfe von vielen organisatorischen Maßnahmen Voraussetzungen für eine aktive Beteiligung der Universitätsangehörigen an den Entscheidungsprozessen geschaffen werden, sowie es nicht genug ist, daß eine in modernen Erkenntnissen der Unterrichtspsychologie wurzelnde Organisation des Unterrichts gestaltet wird, die dem Individuum volle Entfaltungsmöglichkeiten bieten soll.

Es ist nicht genug, weil nach den Worten von Balthasar Gracian (gestorben 1640), Kopf und Herz die beiden Pole der Spannweite unserer Fähigkeiten sind: eines ohne das andere ergibt nur Halbheit. Verstand nützt nichts ohne Gemüt. Mit dem Herzen allein, aber ohne Kopf, schlägt alles fehl - in der Ehe, im Beruf, in der Gesellschaft. Um diese Einheit geht es. Auf ihr Fehlen reagiert unsere Jugend äußerst scharf- und das ist ein Zeichen der Hoffnung. Leider reicht unser Verständnis für ihre sehr unterschiedli-

chen Reaktionsweisen vielfach nicht weiter als für eine Registrierung der Verhaltenssymptome einschließlich aller diesseitigen Differenzierungen, wozu Sozialwissenschaften üblicherweise fähig sind.

Keineswegs soll damit gesagt sein, daß dieses Wissen und auch die Reformansätze unnütz sind; sie sind aber nur der erste Schritt. Was die Studenten eigentlich verlangen, ist eine von Kopf und Herz beseelte Sozial-und Bildungspolitik. Oder anders gesagt: eine Politik, die den Menschen zurückführt zur Quelle seines Lebens, zu Gott. Der Mensch muß wieder spüren können, daß die Gestaltung neuer zwischenmenschlicher Beziehungen ihn den Mitmenschen wieder sehen lassen, sowie alle Versuche zur Individualisierung des Unterrichts ihn letzten Endes zu sich selbst zurückführen. Zögernd und widerstrebend wird der Mensch sich dieser Realität wieder bewußt. Die Parameter dafür sind nicht der Kirchenbesuch oder eine Entfaltung kirchlicher Aktivitäten, sondern Worte und Handlungen, aus denen Unsicherheit hervorgeht oder mit denen der Mensch die - verlorene -Einheit von Kopf und Herz abtastet.

Daher müssen solche Äußerungen von allen Menschen in der Tat ernst genommen werden. Hier liegt eine Chance, die wahrzunehmen ist, insbesondere in einer Zeit, in der sich nach dem Markus-Evangelium (13, 8) ein Volk wider das andere empört und Erdbeben hin und wieder geschehen und teure Zeit und Schrecken sind. Denn schon ist der Not Anfang.

Die „Randbemerkungen eines engagierten Christen“ geben die Meinung des Autors wieder. Diese muß sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken.

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