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Kräutler im Wiener Rathaus

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Am Dienstag, 7. April 1992, bot das Wiener Rathaus ein einmaliges Bild: für den Vortrag eines Bischofs war der riesige Festsaal zu klein. Weit über tausend mußten vor den Toren bleiben. Wiens Bürgermeister, bekannt für sein untrügliches Gespür für Publikumswirksames, hatte kurzfristig Bischof Erwin Kräutler in die Reihe „Wiener Vorlesungen" eingeplant. Was in Salzburg nicht möglich sei, müsse in Wien möglich sein, meinte er.

Wer war gekommen und warum?

Es waren keine Neugierigen, keine, die Freude haben an Demonstration oder Kontestation. Sie kamen aus dem Intensivsegment der Kirche. Sehr viele kannte ich aus Pfarrbesuchen, diözesanen Veranstaltungen. Viel Jugend, Vertreter aller Altersschichten. Bis hin zu einem bekannten Wiener Stadtpfarrer, weit über 80, der sichtlich „verjüngt" nach Hause ging.

Und was haben sie sehen und hören wollen? Nicht Kritik an der Kirche damals oder heute. Sonst hätten sie dies an kritischen Stellen des Vortrags lautstark vernehmen lassen. Offenbar wollten sie von einer Kirche hören, die aus der Geschichte gelernt hat und uns hier Vorwurf und Vorbild zugleich ist. Das zeigte der tosende Applaus am Ende des Vortrags, als Bischof Kräutler von einer neuen Weise der Evangelisierung sprach.

Durch das II. Vatikanum ereignete sich ein neues Pfingsten in Lateinamerika. Die Konferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) haben das gezeigt. Die befreiende Dimension des Glaubens kam zum Tragen. Eine neue Weise, Kirche zu sein wurde durch den Geist Gottes aus dem Glauben des Volkes geboren. Unzählige Basisgemeinden entstanden. Die Verantwortlichen in der Kirche verzichteten auf Privilegien und wechselten den Standort von den Reichen zu den Armen.

Die Kirche selbst teilt mit den Unterdrückten nun das Los, erfährt nicht selten deshalb selbst Verfolgung. Sie ist eine „samari-tanische" Kirche geworden, die vom Pferd stieg, um Öl und Wein in die Wunden so vieler zu gießen. Sie muß noch mehr eine „prophetische" Kirche werden, die mutig ungerechte und todbringende Strukturen anprangert.

Für die Kirche ist der Weg zur ,.Neuen Welt" ein Schritt zurück zum Evangelium. Die Evangelisierung wird nur dann wirklich „neu", wenn alte, festgefahrene Strukturen, die dem Geist Jesu widersprechen, abgebaut werden. „Die Kirche muß menschlicher, .christlicher' werden, so wie sie es in den Basisgemeinden Lateinamerikas geworden ist!"

Am Ende des Vortrags waren viele überzeugt, den Anfang, die Vision einer solchen Kirche erlebt zu haben. Das haben viele erwartet, und sie wurden nicht enttäuscht. Vielleicht hat das Wort des Bischofs im Wiener Rathaus mehr gewirkt als von einer sonst üblichen Kanzel.

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