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Labyrinthe

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Das wichtigste musikalische Ereignis der englischen „Season“ war die Uraufführung der neuen Oper von Benjamin Britten, „Der Tod in Venedig“ nach der Novelle von Thomas Mann im Rahmen des diesjährigen Aldeburgh Festivals. — Thomas Mann hat in seiner Erzählung ein außergewöhnlich weit verzweigtes Beziehungsnetz ausgearbeitet und die Aufgabe Benjamin Brittens und Myfawrty Pipers, der Librettistin, bestand im wesentlichen darin, diese Verbindungen und Querverbindungen in Wort und Ton zu übertragen und den Text durch eine neue Dimension zu bereichern.

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Das wichtigste musikalische Ereignis der englischen „Season“ war die Uraufführung der neuen Oper von Benjamin Britten, „Der Tod in Venedig“ nach der Novelle von Thomas Mann im Rahmen des diesjährigen Aldeburgh Festivals. — Thomas Mann hat in seiner Erzählung ein außergewöhnlich weit verzweigtes Beziehungsnetz ausgearbeitet und die Aufgabe Benjamin Brittens und Myfawrty Pipers, der Librettistin, bestand im wesentlichen darin, diese Verbindungen und Querverbindungen in Wort und Ton zu übertragen und den Text durch eine neue Dimension zu bereichern.

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Dank der Leitmotivtechnik läßt sich die Handlung — das plötzliche Aufflackern einer leidenschaftlichen Liebe zwischen einem älteren Mann und einem sündhaft schönen Knaben in der Lagunenstadt, die von Cholera heimgesucht ist — mühelos von der Partitur ablesen. Daß selbst das beste Libretto das Original etwas vergröbert und vereinfacht, ist unvermeidlich, wie sonst sollte man sich in dem Labyrinth der Beziehungen, die sich auf Symbolik und Allegorie, Sage und Mythologie, Geschichte und Poesie stützen, in dem Grenzgebiet zwischen Wirklichkeit und Traum angesiedelt sind und von Myfawny Piper in zwei Aktie und 17 Szenen gefaßt wurde, zurechtfinden!

Bei der Lektüre des Buches mag man erst allmählich darauf kommen, daß der „Fremde“ dem Aschenbach, der Protagonist der Novelle, in München begegnet, der Dandy, der ihn auf dem Schiff belästigt, der Gondoliere, der ihn wie Charon zum Lido beziehungsweise über den Styx rudert, der Hotelmanager, der Coif-feur und selbst Dionysos ein und dieselbe Gestalt verkörpern. Gehörsmäßig kommt man jedoch sowohl dank der Leitmotivtechnik als auch dadurch, daß alle diese Rollen von derselben Person gespielt und gesungen werden, sofort darauf, und man dringt leichter in den tieferen Sinn der Erzählung ein.

Man könnte annehmen, daß es sich bei der Oper um ein Kommunikationsproblem handelt. Zwischen Aschenbach, dem alternden berühmten Autor, und Tadzio, dem Gegenstand seiner Liebe, wird nicht ein einziges Wort ausgetauscht, wie Moses in Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aaron“ hat Aschenbach keine Sprache, keinen Stil, um das, was er empfindet, auszudrücken. Er, der berühmte Schriftsteller, ist unfähig, Worte zu finden, und im Moment der Selbsterkenntnis hat er nichts anderes zu sagen als „Ich liebe dich“. Seine Schöpferkraft, seine Inspiration ist am Erlahmen und er, der disziplinierte, ordentliche, intellektuelle Künstler folgt dem Ruf des „Fremden“, dem er zufällig in München begegnet ist und begibt sich nach Venedig auf der Suche nach einem Erlebnis, einem Abenteuer, nach Eingebung. Nun weiß man einerseits, daß Britten im Gegensatz zu seiner bisherigen Leichtigkeit in letzter Zeit über zunehmende Schaffensschwierigkeiten klagte, anderseits mußte dieses Kommunikationsproblem einen Komponisten schon deshalb reizen, weil durch Musik all das ausgedrückt werden kann, was sich dem gesprochenen Wort entzieht.

Wie T. J. Reed in seiner Herausgabe von „Tod in Venedig“ (Oxford University Press 1971) ausführt, handelt es sich bei der Novelle vor allem um eine Analyse und eine Untersuchung von Problemen der Kunst. Die äußere Handlung hat dabei, nur anekdotische Funktion, und die wahre Leistung Thomas Manns bestand darin, die verschiedenen Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht und in eine Struktur integriert zu haben. Gewisse stilistische und strukturelle Züge unterstreichen die Ambivalenz scheinbar alltäglicher Erscheinungen, denen Mann die Bedeutung von Omen und Symbol verleiht. Die Geschichte wird auf zwei Ebenen erzählt: als eine Reihe etwas ungewöhnlicher Ereignisse und als ein psychologischer Prozeß, die Abnützung von Aschenbachs Selbstbeherrschung. Alles was Aschenbach erlebt, was Mann 1911 in Venedig selbst erlebt, hätte ohne jede Bedeutung passieren können, erst durch Aschenbach gewinnen die Ereignisse ihre bedeutungsvolle Doppeldeutigkeit.

Hier ist der Ansatz für Benjamin Britten. Wie anders ließe sich die bestürzende Banalität gewisser Motive erklären, die durch raffinierte Instrumentation und Harmonisierung verwandelt werden. Zugegeben, Britten ist konservativ, seine Erfindung ist tonal, und er macht kein Hehl daraus, daß er der Überlieferung verpflichtet ist, aber gerade die Vieldeutigkeit seiner schwankenden Tonarten und das eigenartige Zwielicht, das seine Klangbilder uni-gibt, eignen sich ganz besonders gut für die Vertonung der Novelle.

Um dem wortlosen Knaben, seiner Mutter und seinen Gefährten ein Ausdrucksmittel an die Hand zu geben, werden ihre Rollen von Tänzern dargestellt. Die Fremdheit.vAn-dersheit Tadzios wird durch game-lanähnliches Schlagzeug verkörpert, ein von Klavier begleitetes Rezitativ ist Aschenbach zugeordnet. Der ganze Prozeß beruht auf der Dualität musikalischer Transformation, die Kern und Struktur, das Wesen, betreffen und musikalischer Variationen, die sich auf Oberfläche und Kontur, auf das Erscheinungsbild beziehen. . r

Daß die Oper mit einer Zwölftonreihe beginnt, ist bedeutungsvoll. „My mind beats on but no words come“, mit diesen Worten vertraut uns Aschenbach sein Dilemma an. Da er keine Einfälle hat, verschanzt er sich hinter einer Zwölftonreihe, für die Inspiration und Einfall offenbar überflüssig sind.

Der kühnste Beitrag von Komponist und Librettist findet seinen Ausdruck in zwei Szenen, dem „Idyll1, 7. Szene des ersten, 80 Minuten langen und im „Traum“, 13. Szene des zweiten, 60 Minuten langen Aktes. Hier wird der Gegensatz zwischen Apollo und Dionysos, Kunst und Chaos, Repression und Instinkt, klar herausgearbeitet, und zwei entscheidende Stadien in Aschenbachs Weg zur Selbsterkenntnis werden dargestellt. Die erste der beiden Szenen besteht aus einer Reihe chorischer Tänze^ die in einem klassischen Wettkampf gipfeln und durch einen unsichtbaren Apollo (Falsettstimme) animiert werden. Die zweite konzentriert sich auf den Traum Aschenbachs, in dem sich der Sieg von Dionysos über Apollo vollzieht. Tadzio, der Sieger aller Kämpfe, wird zum erstenmal geschlagen, seiner Niederlage folgt Aschenbachs

Tod, der Hermesbote winkt dem sterbenden Dichter, um ihn ely-säischen Gefilden entgegenzuführen.

Als hymnische Dichtung hatte Mann das Werk begonnen, als „moralische Fabel“ hatte er es beendet. Das Verdienst Brittens ist es, der Novelle das Hymnische, Dichterische zurückgegeben zu haben, und in diesem Sinne kann man die Oper als eindeutig gelungen betrachten.

Bei der Premiere gaben die Künstler ihr Bestes und übertrafen sich selber. Für Peter Pears (Aschenbach) war es der Triumph seines Lebens, John Shirkey-Quirk glänzte durch seine stilistische und stimmliche Vielseitigkeit, dem Apollo John Bow-mans haftete eine unirdische Schön-, heit an. Dirigent (Stuart Bedford), Regisseur (Colin Graham), Bühnengestalter (John Piper) und Choreograph (Frederick Ashton) trugen das ihre zu dem Erfolg bei. Leider war Britten wegen einer Operation daran verhindert, den stürmischen Beifall selbst entgegenzunehmen.

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