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Die Moderne läuft Amok

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Wer zur rechten Stunde das Hol- lamdfestival besucht, gewinnt die Illusion entfesselter Moderne. Die Schauspieltruppe eines polnischen Theaterlaboratoriums aus Wroclaw, dem früheren Breslau, führt eine eigene Version des „Standhaften Prinzen“ von Calderon auf: ekstatisches, mit Hilfe von Yoga erarbeitetes Theater, allein auf den Menschen und seine Körperlichkeit gestellt, ein Theater der Schreie, der unvermittelten Umbrüche, der rauschhaften Verzückung — Ohne Dekor, ohne Bühne. Der französische Komponist Pierre Bolulez dirigiert ein Programm des Concertgebouw- Orchesters mit Werken von Varèse, Berg, Bartók und Debussy, führt beispielhafte Klangzerlegung vor, bringt nie Gehörtes ans Ohr. Bruno Maderna und das Haager Residenz- Orchester schließen sich zwei Tage später mit einer Debussy - Webern- Berg-Sohönberg-Folge an. In Amsterdam ist Jean Dubuffet, in Den Haag Piet Mondrian umfassend zu besichtigen. Und im Amsterdamer „Carré“, sonst Revuen und Musicals Vorbehalten, hält das „Labyrinth“ in Atem, kunstrevolutionäres Totaltheater junger, besessener Bilderstürmer.

Das Werk ist auch im schlechten Wortsinne Sensation, eine mit voller Absicht enervierende Schau. Vor drei Jahren erschienen die ersten Publikationen darüber, bald darauf setzte der Kampf um die Aufführung ein, den vor allem der Komponist Peter Schat und sein Librettist Lodewijk de Boer — ebenfalls ein Musiker: Bratscher im ehrwürdigen Concert- gebouw-Orchester — schließlich gewannen. Kann man, soll man einen Inhalt erzählen, der bewußt nicht erzählbar sein soll, der a-uf Desorientierung hin angelegt ist? Inhalt und Form sind ineinander gespiegelt. Auf mehreren Zeit- und Raumebenen soll sich ein Bild von der Welt entfalten, das nichts mehr bedeutet, sondern scheinbar verstehbare, banale Zusammenhänge verändert zum Unverstehbaren, zum undurchdringlichen Labyrinth, in dem jeder auf die Erfahrung seiner persönlichen Wahrheit angewiesen ist. Gustav René Hockes „Die Welt als Labyrinth“ — eine Beschreibung des Manierismus in der europäischen Kunst — hat dazu ebenso Pate gestanden wie ein ganzer Zitatenschatz von Jorge Luis Borges, Thomas Mann, Brecht, Achterberg, Mallarmé und etlichen anderen: ein Schlachtfest der Ästhetik.

Das Publikum sitzt im Halbkreis um das Spielfeld, in dem gestufte Podeste — für das Orchester und für die verschiedenen Handlungen — errichtet sind; eine Bühne in Höhe der Galerie dient einer Tanzgruppe zu Bewegungsetüden, auf gleicher Höhe thront inmitten einer ausgestopften Menagerie — Schlachthof oder Museum, vielleicht beides — ein starräugig-scmnambules Wesen, halb Kassandra, halb Lulu, vor einem Weihrauchgefäß. Drei Filmleinwände sind aufgehängt, Lautsprechergruppen ringsum ange- ordntet. Der Aufwand dient indes einem Geschehen von schmerzhafter Einfalt: berichtet wird vom Abstieg der Filmsöhauspielerin Beauty Kitt, dem von drei Männern, einem Sexphotographen, einem pseudo-intellektuellen Filmschreiber und einem dhromiisch alkoholisierten Exboxer, mißbrauchten Geschöpf. Sie ist eine Art Monroe, der Photograph sensationsgieriger Zerstörer von Unschuld, der Filmschredber ein Bild Arthur Millers, der Boxer aber, in der Besäufnis, nichts Geringeres als ein Priester.

In Trance erzählt er die Mythe vom Paradiesvogel, einem Buch des flämischen Schriftstellers Louis-Paul Boon entnommen. Diese parallellaufende, von Sängern interpretierte Geschichte handelt von der Inthronisation einer Frau als verderbenbringende Gottheit: der sterbende Alltagsmythos — die Marilyn-Monroe-

Figur, der Boxer als Heros — gebiert rückläufig den heidnischen. Dazu läuft ein raffiniert aufgenommener und geschnittener Film an der kaum noch ‘gewahrten Grenze des Obszönen, der die Körperlichkeit der Frau zeigt. Eros ist reduziert auf Sexualität, Sexualität wiederum auf großporige Eperdermis, Falten, Öffnungen. Das Ewig-Weibliche wird präsentiert als Produkt und „Schuld“ des Mannes. Als Triptychon über die Frau als absolutes Wesen — in ideologischer, vulgär-realistischer und rein körperlicher Sicht — sollen wir dies merkwürdige Spätgeburt von einem Gesamtkunstwerk verstehen. Deutlich wird aus dem verquollenen, überfrachteten Text, der die heute so beliebte Verbindung von Sexus und Mythos vollzieht, nur eine Ohnmacht des Intellekts: die Unmöglichkeit der Rückkehr zum archaischen Ursprung.

Kunst ist hier zur Stimulation erniedrigt. Der Wille zur Stimulation steht auch der Musik im Wege. Sie leistet auf weite Strecken Verzicht auf verbindliche Komposition, bleibt an Subtilität hinter dem Schönberg des „Moses und Aron“ zurück. Wenn das Licht der Musik ihre Struktur ist, so spiegelt diese getreulich die Dunkelheit des Labyrinths. Mit der Technik und den Mitteln der jüngsten Moderne, mit Tonbändern, elektronischen und denaturierten Einschüben, rotierendem Klang, mit einem Chor, der auch zu zischen, zu lachen, zu klatschen und Schlaginstrumente zu bedienen hat, mit asiatischem Schlagwerk neben den üblichen Klangerzeugern, werden fast ausschließlich hochgeputschte Akzente produziert. Der begabte Peter Schat wurde ein Opfer seines eigenen Spectaculums. Aber die schon mehrfach aufgeführten, rein orchestralen „Tänze“ aus dem Werk sind in ihrer klanglich gut ausgehörten Primitivität ein durchaus gelungener Versuch, der in seriellen Sackgassen festgefahrenen Musik moderne Vitalitätsspritzen zuzuführen. Mehr noch legen die oratorisch in sich geschlossenen Mythenteile Zeugnis von Qualität ab: an dem melodisch ausgeweiteten Psalmodie- ren der Solisten, der besonders eindringlich geführten Altstimme — als Noema, die Paradiesvogelgottheit —, den sich behutsam voneinander ablösenden Klangflächen zeigt sich der Charakter von Beschwörung, die Überzeugungskraft musikalischer Überredung.

Für die Phalanx der Mitwirkenden und Koproduzenten mag Bruno Maderna stehen, der die heterogenen musikalischen Gebilde unerschütterlich zusammenhielt. Wenn Festivals eine nicht nur kulinarische

Aufgabe haben, wenn sie den Trott des Kunstalltags Lügen strafen, Entwicklungen schaubar machen, Wendepunkte markieren sollen, dann war die Unternehmung in hohem Maße festspielwürdig. Weltstädtisch gab sich nicht zuletzt das Publikum: es nahm — von offenbar studentischen Zwischenrufen abgesehen — gelassen den beabsichtigten Bruch mit allen Traditionen hin. Niemals aber war Überlieferung, das philosophisch-ästhetische Erbe von Jahrhunderten, stärker spürbar als an diesem Abend: die Urheber des Labyrinths zappelten, zitierend und beschwörend in eben jenem Netz, dem sie zu entkommen suchten.

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