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Lange und kurze Haare…

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Vor 25 Jahren war man skeptisch, reserviert, kritisch, die Kirche sandte Theologen zur Beobachtung, ohne viel offiziell verlauten zu lassen. Heute, nach all dem, was Religion und Kirche an sich erfahren mußten, kann man nur froh sein, daß es solche Unternehmen wie die Moralische Aufrüstung von Caux gibt. Wer würde es denn noch wagen, von Absolutem zu sprechen? „Wer heute für Gottes Maßstäbe — absolute moralische Maßstäbe — einsteht, dem wird aus gewissen Kreisen sofort entgegengerufen: Das ist moralische Diktatur! Der Mensch wird eingeengt und gezwungen. Das ist Faschismus! Wenn wir doch aus der Geschichte die Lektion lernten, daß diejenigen, die gegen moralische Maßstäbe sind, unweigerlich zur Entwicklung der Diktatur beitragen. Ich weiß auch aus Erfahrung, daß moralische Maßstäbe nicht beschränken, sondern befreien.“ So Dr. P. Campbell im Jubi- läumsblatt der Caux-Information. Die konkreten Illustrationen dazu findet man bei politischen Parteiungen wie reformwütigen Katholiken.

Absolute Ehrlichkeit, absolute Selbstlosigkeit, absolute Reinheit, absolute Liebe, von diesen vier Absoluten, die Caux’ Zielsetzung bedeuten, wurde nichts gestrichen, gerade auf Grund von Erfahrungen, die man mit der Jugend machte. Es hat auch in der Moralischen Aufrüstung Auseinandersetzungen bis zu Krisen gegeben, die aus dem Verlangen, mit der Zeit zu gehen, entstanden; aus propagandistischen oder missionarischen Überlegungen heraus, um aktuell zu bleiben, um die Massen zu gewinnen, etwas von der

Absolutheit der Prinzipien abzustreichen. Gerade die Erfahrung mit Jugendlichen jedoch hat sie gelehrt, ihren Zielen treu zu bleiben. Man hat auch den Mut aufgebracht, gewissen Elementen den Rat zur Abreise nahezulegen. Das hat jedoch nichts geändert an der geistig freien Atmosphäre in Caux. Kommt man heute, nach 25 Jahren, wieder ins Mountain House über dem Genfer- see, wird man genauso unvoreingenommen und freundlich empfangen wie früher. „Es gibt lange Haare und kurze, Blue-jeans und schicke Anzüge, dazu alle nur denkbaren Überzeugungen — alles in diesem einen Raum“, schreiben sie selbst. Man sieht wohl den heutigen modischen Wirrwarr im Gegensatz zu früher, doch, wo man auch hingeht, ob zu Zimmer- oder Küchenpersonal, zum Empfangschef oder einfach zum nächsten Besten: freundliche Offenheit und Hilfsbereitschaft (unwillkürlich vergleicht man seine gemischten Gefühle, mit denen man kirchliche oder staatliche Behördenräume betritt oder nur an einer Sitzung mit „Mit- brüdem“ teilnehmen muß). Die beiden Riesenhotels werden immer noch ohne jedes bedienstete Personal geführt, jeder hilft mit, Hoch und Nieder.

Was zeit- (mitunter auch den Verstand) raubende Diskussionen, ökumenische Bewegungen, Slogans von Mitmenschlichkeit und Toleranz angestrengt sich zu dozieren bemühen, hier wird es täglich vorexerziert. „Mehr als 1300 Delegierte aus 37 Ländern wohnten den Eröffnungssitzungen der 25. Jahreskonferenz für Moralische Aufrüstung in Caux bei. Innerhalb von 48 Stunden hatten Sondermaschinen 120 Teilnehmer aus Australien, Neuseeland, Papua-Neuguinea, Indien, Singapur, Hongkong und Iran, 60 aus den Vereinigten Staaten und Kanada, 100 aus Skandinavien und 120 aus Großbritannien gebracht. Weitere große Delegationen aus Südafrika, Äthiopien, Japan, Kuweit und Südamerika trafen gleichzeitig auf dem Luft- und Landweg ein. Es wurde zur stehenden Formel dieser Tage, daß, wer am Morgen als Gast in Caux begrüßt wurde, am Nachmittag schon die neuen Gäste empfing.“

Wie funktioniert das nun schon 25 Jahre lang? Wozu viel äußere Daten? Die kann man nachlesen. Es gelingt nur von innen her. „Die Moralische Aufrüstung ist eine Kampfansage an jede Form der Unreinheit, Selbstsucht und Korruption im persönlichen, nationalen oder wirtschaftlichen Leben. Wir müssen diesen Kampf gewinnen, wenn die Humanität nicht in die Barbarei zurücksinken will“, formuliert ein Schweizer Bundesrichter. Und damit beginnt jeder am Morgen bei sich selbst und beim Nächstliegenden beziehungsweise ist es der Sinn der Konferenzen, jeden dazu zu bewegen, sich morgens zu einer „stillen Zeit“ hinzusetzen, an den vier Absoluten seine vor Ihm liegenden Pflichten zu messen, ein stilles Zwiegespräch mit dem Absoluten, wie es sich eben jeder in seiner religiösen Auffassung vorstellt, zu halten, die stillen Zeiten auch untertags, seien es auch nur wenige Minuten, einzuschalten, um die „Führung“ nicht zu verlieren. Selbstverständlich ist die Moralische Aufrüstung von ihrer Gründung her christlich orientiert jedoch ohne konfessionelle Enge. Um nicht in Subjektivismus zu geraten, findet man sich in kleinen Gruppen zusammen, um untereinander Rat zu halten, sich gegenseitig aufmerksam zu machen, wenn nötig auch zu korrigieren. Nur von dieser Ordnung im persönlichen Leben, bekommt man immer wieder zu hören, kann Ordnung ins öffentliche Leben ausstrahlen. „Die in den Zimmern eingesperrte Weltgeschichte“, sagte einmal Kafka. Das ist das ganze Geheimnis. Die kompliziertesten Probleme können oft sehr einfach werden. Man muß sie nur gehört haben, die Gewerkschaftler, Diplomaten, Arbeiter, Studenten, Neger, Inder, Amerikaner, Deutschen, Franzosen usw., wenn sie auf den Konferenzen von ihren Erlebnissen unter dieser Devise der „Änderung“ berichten. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die Moralische Aufrüstung viel für die Befriedung im europäischen Raum getan. Frank Buchmann, der Gründer selbst, hat sich damals für das gedemütigte Deutschland eingesetzt Heute arbeiten die, die ihr ganzes Leben der Bewegung verschrieben haben, die sogenannten Fulltimer, vor allem im asiatischen und südamerikanischen Raum. Sie tauchen wohl in keinen Statistiken auf, ihre Werke können nicht gezählt und gemessen werden. Wenn man aber eine Weile mit solchen Fulltimern spricht, einige Tage in Caux verbracht hat, erfährt man ganz deutlich, daß die wahren Kräfte nicht in Zahlen oder lautstarken Proklamationen liegen.

Daß es Fehlentwicklungen gibt, ein sektiererisches Abgleiten, wie man früher gern kritisch bemerkte, wo gibt es das nicht? Man besuche nur einen katholischen Gottesdienst alten oder neuen Stils oder gar Klerikergemeinschaften. All diese Schwierigkeiten, die man früher glaubte heraussteilen und Bedenken anmelden zu müssen, treten heute in der allbekannten Lage, in die sich Religionen und Kirchen hineinmanövriert haben, um es nicht deutlicher zu sagen, zurück hinter dem wirklich Zustimmung und Bewunderung erregenden Erlebnis, daß es noch so etwas wie Caux und seine stille Revolution in der heutigen Zeit und Welt gibt.

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