Diskurs und Demokratie: Reif für den Konflikt?

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Wut, Empörung und gnadenlose Wahrheitsansprüche prägen die öffentliche Auseinandersetzung. Doch Demokratie braucht den Kompromiss. Überlegungen anhand von 50 Jahren Fristenregelung.

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Wut, Empörung und gnadenlose Wahrheitsansprüche prägen die öffentliche Auseinandersetzung. Doch Demokratie braucht den Kompromiss. Überlegungen anhand von 50 Jahren Fristenregelung.

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Sind Sie ein Antisemit? Oder sind Sie islamophob? Ist das Töten jüdischer Babys ein Akt der Befreiung – oder leben in Gaza samt und sonders nur Terroristen? Vor diese Entscheidungsfragen hat Die Tagespresse unlängst ihre Leserinnen und Leser gestellt. Gut einen Monat nach dem 7. Oktober hätten sich Millionen Menschen in Österreich noch immer nicht zweifelsfrei positioniert, lautete die Klage.

Das war natürlich ironisch gemeint – wie immer auf diesem gut gemachten Satireportal. Dennoch ist der Wirklichkeitsgehalt verstörend hoch.Die genozidale Terrorattacke der Hamas auf Israel hat den in der Corona-Pandemie verschärften sowie im russischen Angriff auf die Ukraine weiter dynamisierten Ad-hoc-Bekenntniszwang auf die Spitze getrieben.

Das ist nicht nur schwer auszuhalten, sondern auch gefährlich: Denn diese Radikalisierung des öffentlichen Diskurses, dieses Ausblenden aller Grautöne, diese durch „soziale Medien“ getriebene kollektive Regression auf die bloße Emotion und in der Folge auf Wut und Hass gegenüber Andersdenkenden haben ihren Preis. Und der ist nicht weniger als die ­liberale Demokratie.

Um sie zu bewahren, braucht es nämlich mehr als das Funktionieren ihrer Säulen und Institutionen – was bekanntlich schwierig genug ist. Es braucht das Bewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger, dass die eigene Wahrheit, sei es eine leidenschaftliche Meinung oder eine religiöse Überzeugung, bei der Wahrheit des anderen endet; und dass am Ende – horribile dictu – auch der Andere recht haben könnte. „Demokratie ist eine Lebensform“, brachte es Dienstag dieser Woche eine Tagung über die „Krise der Demokratie und die Rolle der Religion“ auf den Punkt. Und diese Lebensform muss täglich neu eingeübt werden.

Geschichte eines Kulturkampfs

Wie schwierig, aber essenziell das Aushalten von Konflikten und das Ringen um politische Kompromisse in einer liberalen Demokratie sind, zeigt auch ein Blick auf eines der großen gesellschaftlichen Reizthemen: den Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch. Vor genau 50 Jahren, am 29. November 1973, wurde im österreichischen Nationalrat die sogenannte Fristenlösung verabschiedet – mit 93 SPÖ-Ja-Stimmen gegen 88 Nein-Stimmen von ÖVP und FPÖ. Wenig später erhob die ÖVP im Bundesrat Einspruch. Mittels Beharrungs­beschluss wurde das Gesetz freilich am 23. Jänner 1974 durchgesetzt und ist im Jänner 1975 in Kraft getreten.

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