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Lieben Arme ihre Kinder weniger?

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Ein deutscher Professor widerlegt die erstaunliche und gefährliche These zweier Soziologen, wonach arme Bauern ihre Kinder und Partnerweniger lieben als reiche Wohlstandsbürger.

Ein Professor der Universität des Saarlandes, Richard van Dülmen, tritt einer Theorie der Soziologen Edward Shorter und Elisabeth Badinter über den Stellenwert der Kinder- und Gattenliebe in der f rü-

hen Neuzeit entgegen. Auf den ersten Blick wirkt der Gelehrtenstreit über die Entstehung der modernen Emotionalität wie graue Theorie. Bei näherem Zusehen entpuppt er sich als erstaunlich aktuell. Van Dülmen zerpflückt die Aus-

sagen von Shorter und Badinter, bleibt dabei streng wissenschaftlich und läßt nicht erkennen, daß er die politische Dimension durchschaut hat. Aber man darf davon ausgehen, daß dem so ist.

In den jüngsten „Mitteilungen“ der Deutschen Forschungsgerpein-schaft, die seine Arbeit förderte, schreibt er: „Wer sich heute mit historischen Aspekten der Emotionalität beschäftigt, kommt nicht an den Thesen der Soziologen Edward Shorter und Elisabeth Badinter vorbei. Sie behaupten, daß der frühneuzeitlichen Gesellschaft echte Mutterliebe unbekannt war. Kinder seien zwar als Erben, Arbeits-

kräfte und als Altenhilfe geschätzt worden, aber über eine minimale Fürsorge hinaus hätte man ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Aus diesem Grunde wundere die hohe Kinder-sterblichkeit nicht, der sorglose Umgang mit Kleinkindern komme der Ver-wahrlosung gleich.

Ähnlich beurteilen Shorter und Badinter auch die ehelichen Beziehungen, vor allem das Verhalten der Männer zu ihren Frauen: Die Frau sei als bloßes Sexualobjekt und Arbeitstier ohne eigene Bedürfnisse und Interessen angesehen worden. Eine Frau habe letztlich weniger Wert als das Vieh besessen, um das man sich mehr kümmerte. Zärtlichkeit und Erotik seien der Oberschicht vorbehalten gewesen, der alltägliche Ar-beitsablauf im einfachen Volk habe sie kaum erlaubt.“

Van Dülmen tritt dieser Ansicht vehement entgegen. Er belegt anhand sozialgeschichtlichen Quellenmaterials, daß auch in der frühneuzeitlichen Agrargesell-schaft „um die Gesundheit jedes Kindes... gebangt und gerungen und der Tod oft auf fäl-,

lig beklagt“ wurde, er fand viele Zeugnisse dafür, „daß Eltern lange nicht über den Tod eines Kindes hinwegkamen“ und „kein Mittel finanzieller und kultureller Art scheuten, ihren Kindern gute Überlebensmöglichkeiten zu bieten.“

Es mag im ersten Augenblick eine gewisse Versuchung bestehen, solche Aussagen für selbstverständlich, ja trivial zu halten. Aber nur, wenn man über das Politische bei Shorter und Badinter hinwegsieht. Vorläufer ihrer Theorie haben schon vor vielen Jahrzehnten als Alibi für die Gleichgültigkeit gedient, mit der man über das unbeschreibliche EJend der durch Mechanisierung und Modernisierung brotlos gewordenen Landbevölkerung und über die nach Millionen zählenden Opfer der Industrialisierung hinwegsah. Diese Leute würden unter ihrem Zustand doch lang nicht so leiden wie ihre mit einem viel feineren Empfindungsapparat ausgestatteten mitleidigen Fürsprecher in den besser gestellten Schichten, hieß es.

Die biologistischen Theoreme, mit deren Hilfe man dies einst plausibel machte, befriedigen heute keinen Yuppie (Young Urban Professional, Synonym für den snobistisch angehauchten Aufsteiger).

Aber eine Theorie, welche jenen, die sich keinerlei materiellen Luxus leisten können, auch den seelischen Luxus der Kindes- und Partnerliebe abspricht und meint, als Folge materieller Not trete eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod nahestehender Menschen ein, könnte vieles leichter machen, wenn sie sich durchsetzt und gehörig popularisiert wird.

Sie könnte die Bildung der kollektiven seelischen Hornhaut fördern. Sie könnte es erleichtern, die noch immer zu wenig ausgeprägte Resistenz gegenüber den Fernsehaufnahmen der Verhungernden in der Sahelzone aufzubauen. Sie könnte helfen, den Wählern geringe, ja vielleicht sinkende Aufwendungen für Entwicklungshilfe zu „verkaufen “. Sie würde auch als Argumentationshilfe für jene garnicht so wenigen taugen, die da meinen, das Verhungernlassen sei sowieso ein ganz brauchbarer Ersatz für Be-

völkerungspolitik: Den Müttern tut um ihre Kinder eh nicht so leid, und den Männern nicht um ihre Frauen, die Ziege ist ihnen wichtiger, seid also nicht zimperlich, wenn Ihr wieder diese Bilder im Fernsehen seht. • Das wissenschaftliche Alibi wäre soweit lückenlos: Sind nicht die Lebensumstände in den verelendenden Agrargesellschaften der Dritten Welt, was ihre Relevanz für die menschlichen Beziehungen betrifft, denen in der frühen Neuzeit Europas vergleichbar? Shorter und Badinter haben das alles möglicherweise nicht so gemeint. Aber eine Theorie, die Menschen partiell die Leidensfähigkeit abspricht, ist heute so gefährlich wie vor einigen Jahrzehnten die Menschenzucht-theorien.

Oder wie der sogenannte Sozialdarwinismus, der mit Darwins Theorie wenig gemein hatte: Aus der plausiblen Ansicht, daß die besser angepaßten Individuen bessere Vermehrungschancen haben und sich daher auch stärker vermehren, wurde das Recht abgeleitet, alle, die man für minderwertig hielt, umzubringen. Wissenschaftliche Aussagen sind mißbrauchbar.

Besonders wenn „Paradigmenwechsel“ angesagt ist, wenn Abbau sozialer Netze auf dem Programm steht, wenn Solidarität reduziert wird, sind Rechtfertigungen gefragt. Es könnte in dieser Hinsicht einiges auf uns zukommen.

Dank Rationalisierung, dank einem neuen, um viel Verantwor-tungs-„Ballast“ erleichterten Konservativismus, dank konsequent marktwirtschaftlicher „Lösung“ der Wohnungsfrage, wächst in einem Teil der westlichen Industriestaaten möglicherweise wieder einmal eine Schicht heran, deren Existenz . politisch leichter verkraftbar ist, wenn man ihr unterstellt, sie würde das alles gar nicht als so arg empfinden. Not mache sozusagen empfindungslos. Wenn schon nicht in der ersten, dann wenigstens in der zweiten oder dritten Generation...

Diese Sicht mag übertrieben klingen. Aber man kann nicht wachsam genug sein. Darum ist die Widerlegung der erwähnten Theorie durch Richard van Dülmen so wichtig.

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