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Mit Röntgenaugen

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Nun ist also auch über ödön von Horväth eine jener Bildbiographien erschienen, wie man sie Klassikern zu widmen pflegt. Und in der Tat ist Horväth während des letzten Jahrzehnts zu einem modernen Klassiker geworden: nach Brecht, Shakespeare, Moliere und Nestroy nimmt er mit 586 Aufführungen an deutschsprachigen Bühnen während der vergangenen Spielzeit den ehrenvollen achten Platz ein.

1901 in Fiume geboren, 1938 während eines Sturmes in Paris von einem herabstürzenden Ast erschla-

gen — zwischen diesen Daten rollt ein innerlich und äußerlich bewegtes Leben ab, und jede seiner Phasen und Zäsuren kann man an diesem Bildband ablesen. — Als Material diente den beiden Herausgebern die in der Wiener Horväth-Ausstellung im Museum des 20. Jahrhunderts gezeigten Photographien und Dokumente sowie die reichhaltige Sammlung des Berliner Horväth-Archivs.

| Horväths Vater war Ungar, seine Mutter hieß Maria Hermine von Prehnal. Hierzu Horväth: „Ich wurde in Fiume geboren, bin in Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen — und habe einen ungarischen Paß — aber .Heimat'? Kenne ich nicht... Ich spreche weitaus am besten Deutsch ... gehöre also dem deutschen Kulturkreis an ... Allerdings, der Begriff .Vaterland', nationalistisch gefälscht, ist mir fremd. Also, wie gesagt: Ich habe keine Heimat und leide natürlich nicht darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit, denn sie befreit mich von einer unnötigen Sentimentalität.“

Das ist ein Bekenntnis, welches, als es abgelegt wurde, für den Autor hätte gefährlich werden können. Denn Horväths Entwicklung als

Mensch und als Schriftsteller fällt in die Zeit des sich entwickelnden und zur Macht kommenden Nationalsozialismus. Trotzdem erhielt er 1931 auf Empfehlung Carl Zuckmayers den begehrten „Kleist-Preis“ — was in dem vorliegenden Band ausführlich dokumentiert ist, auch mit Pro-und Kontrastimmen.

Horväths erste Stücke — ..Die Bergbahn“ (1929), „Italienische Nacht“ und „G'schichten aus dem Wienerwald“ (1931) — wurden in Berlin uraufgeführt. Hierüber gibt es viele interessante Bühnenbilder, Pressestimmen, Programme. Der Berliner Ullstein-Verlag gibt Horväth einen Vertrag, der ihm das Leben als freier Schriftsteller und zahlreiche Reisen ermöglicht. In dem Flugblatt des ARCADIA-Verlages, der Ullstein gehörte, finden sich positive Stimmen über „G'schichten aus dem Wienerwald“ von Kästner und Kerr, Diebold, Bie und Bab, Polgar und Pinthus. — 1933 ist für Horväth vorläufig das deutsche Theater gesperrt. Die Zäsur nach seinem Tod dauert volle zehn Jahre. Dann gibt es eine Flut von Horväth-Aufführungen, und davon, in dem vorliegenden Bildband, viele Theaterzettel, Bühnenbilder, Entwürfe, Handschriftproben und persönliche Aufzeichnungen.

Die friedlichsten Zeiten in seinem unruhigen Leben hatte Horväth im Landhaus seiner Eltern in Murnau, und der Beschauer genießt diese Atmosphäre von Wohlstand und Geborgenheit mit winterlichem Eisschießen und Maskenbällen. Freilich gibt es dort 1931 auch eine Saalschlacht und einen politischen Prozeß. In beide war Horväth verwickelt.

Als Motto steht auf der ersten Seite dieser Bildbiographie ein Wort Horväths: „Gott, was sind das für Zeiten! Die Welt ist voll Unruhe, alles drunter und drüber, und doch weiß man nichts Gewisses. Man müßte ein Nestroy sein, um all das definieren zu können, was einem Undefiniert im Weg steht.“ Dazu das Zeugnis Heinz Hilperts, der der eigentliche Entdecker und größte Förderer des Dichters war: „Horväth selbst ist ja doch ein heiterer Mensch — zwar sehr melancholisch und sehr belastet — gewesen, aber er war ein Mensch, der absolut nicht mit negativen, sondern nur mit Röntgenaugen das Leben gesehen hat — so wie es wirklich ist.“

Eine Chronologie des Lebens und Schaffens mit dem Titel „Daten“ sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis verleihen dieser Bilddokumentation zusätzlichen Wert.

ÖDÖN VON HORVÄTH. Leben und Werk in Dokumenten und Bildern. Herausgegeben von Traugott Krischke und Hans F. Prokop. Suhrkamp-Verlag, 203 Seiten.

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