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Horvath in statu nascendi

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Dem profunden, mit eindrucksvollen Bildern, Karten und Tabellen ausgestatteten Band von Harry Hamm „China — Grenzen einer Großmacht“, 198 Seiten stark, erschienen im Paul-List-Verlag, München 1970, liegen unzählige frühere Berichte, Reportagen und Analysen zugrunde, welche dieser Ostexperte über ein Jahrzehnt lang in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichte. Im Textteil wird die volksreichste Nation dieser Erde, die aus einem jahrhundertelangen Dämmerschlaf endlich erwacht ist und die sich nun in der weltpolitischen Arena in zunehmendem Maße Gehör und Achtung verschafft, aus unmittelbarem Erlebnis aufgezeichnet. Harry Hamm stellt die für den Europäer oft unerklärlich, absurd oder gar grotesk erscheinenden Phänomene, wie den .“.Großen Sprung“ oder die berühmte „Kulturrevolution“ in ein Licht, das uns ermöglicht, sowohl die Macht als auch die Ohnmacht des chinesischen Kommunismus leichter und wirklichkeitsnäher zu beurteilen. O. S.

ödön von Horvath hat nicht erst Sperr und dessen Zeitgenössen beeinflußt. Eine Wirkungsgeschichte Horväths, längst diissertatiönisreifes Thema, hätte spätestens in den frühen fünfziger Jahren anzusetzen. Honrath-Entdeckungen und Hor-vath-Verdrängungen folgten einander, teilweise in Korrespondenz mit gegenläufigen Brecht-Wirkungszyklen. Daß es trotzdem erst 32 Jahre nach dem Tod des Dramatikers auf den Champs-Elysees zu „Gesammelten Werken“ kam, ist kein literarhistorisches Mysterium, sondern darauf zurückzuführen, daß die Wiederentdeckung Horväths, der zu Lebzeiten hauptsächlich von deutschen Theatern gespielt wurde, zunächst in Österreich stattfand, dessen Verleger Herausforderungen dieser Art selten gewachsen waren. Die Gesammelten Werke, bei Suhr-kamp herausgegeben vom Trio Hildebrandt, Huder und Krischke, sind, gerade weil so lange überfällig, eine große verlegerische Tat. Band I liegt jetzt vor und enthält „Die Bergbahn“ und deren Erstfassung „Revolte auf Cöte 3018“, die „Italienische Nacht“, „Geschichten aus dem Wienerwald“, „Kasimir und Karo-line“, „Glaube, Liebe, Hoffnung“, die beiden „Sladek“-Fassungen, den „Jüngsten Tag“, „Don Juan kommt aus dem Krieg“ sowie das Frühwerk „Mord in der Mohrengasse“.

Die Gruppierung überzeugt nicht recht. Was Horvath so unter seine Stücktitel schrieb, ob „Volksstück“, „Schauspiel“ oder „Komödie“, verwischt, zum Ordnungsprinzip einer mehrbändigen Ausgabe gemacht, viel wichtigere thematische und zeitliche Zusammenhänge. Der Anmerkungsapparat ist zu knapp. Aber eines Tages kommt ja vielleicht doch die sündteure textkritische Ausgabe und die muß sich dann von den jetzigen Gesammelten Werken unterscheiden.

„Mord in der Mohrengasse“: eines der frühesten Stücke, von denen der Autor die meisten vernichtet hat. Begreiflich, daß bisher weder gespielt noch gedruckt. Expressaonistisch-verkorkst, „unerschöpflich strömt die Latrine der Ewigkeit über die Planetensysteme“ — wer hätte das von Horvath gedacht? Indizien für das überragende Talent des Autors entdeckt man leicht, wenn man davon weiß. Der ermordete Juwelier erscheint sozusagen mit einem Stück Deus-ex-machiina-Maschiinerie unter dem Arm, Vorbote des ein rundes Jahrzehnt jüngeren „Jüngsten Tages“.

Auch die „Bergbahn“, die Horväths Erfolg begründete, wirkt aus vier Jahrzehnten Abstand streckenweise mehr billingerisch als expressionistisch, aber das Stück wurde damals richtig verstanden: nicht als technikfeindlich-reaktionäres Plakat, sondern als Aufklärung über den Mißbrauch von Menschen durch Menschen. Noch braucht Horvath alles, was1 der bühnentechnische Illusionsapparat zu bieten hat. An Regieanweisungen wie „stürzt kopfüber hinab“ oder „Sturm läßt Augenblicke nach; Schnee fällt in großen Flocken“ und Anzengruber-Szene-rien („An einer Leine hängt buntgeflickte Wäsche. Spätnachmittag. Herbst. Windstill“) herrscht kein Mangel.

Dafür ist der ganze Horvath dann im Sladek da. In der Erstfassung laufen die Szenen noch holterdiepolter, nichts vom raffinierten Bau der „Geschichten“. Kleine Kürzungen und große Umstellungen lassen verwischte Konturen plötzlich scharf werden. Zwischen Fassung eins, „Sladek oder die schwarze Armee“, und Fassung zwei, „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, liegt der ganze Unterschied zwischen Beiläufigkeit und Prägnanz.

Daß ein Wien, das sich das schlechte Gewissen nur vorspielte, die „Geschichten aus dem Wienerwald“ knapp nach dem Krieg nicht aushielt (die Aufführung führte zu einem der ersten Theaterskandale) beweist die Stimmigkeit des Stückes. Die nächste Wiederentdeckung geschah dann unter dem Vorzeichen einer melancholisch überglänzten, mehr unpolitischen Traurigkeit. „Don Juan kommt aus dem Krieg“ wurde 1952 im Theater der Courage uraufgeführt, aber unter dem Titel „Don Juan kommt zurück“. Es wurde befürchtet, das Wort Krieg könne unangenehme Empfindungen auslösen. Schon 11950 hatte Michael Kehlmann „Kasimir und Karoline“ im Konzerthaustheater inszeniert. Von der Oktoberwies'n in den Prater verlegt, mit dem Riesenrad im Hintergrund.

Für die „Italienische Nacht“ war die Zeit noch nicht wieder reif. Die Wiederantdieckung in Deutschland stand dann im Zeichen dieses Stük-kes. Und natürlich der „Geschichten“. Aber von denen fühlt man sich dort ja nicht betroffen.

GESAMMELTE WERKE. Von ödön von Horvath. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 660 Seiten, Leinen, Dünndruckausgabe. DM 40.—.

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