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Digital In Arbeit

Muß man sein Recht bis zum I-Tüpferl ausnützen?

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„Wer zu Fuß geht, während sein Auto repariert wird, ist ein Trottel!“ So zu lesen in einer Werbeanzeige in den beiden auflagestärksten Wiener Tageszeitungen.

Abgesehen davon, daß auch in der Werbung der Ton die Musik macht, stimmt die Tendenz dieser Anzeige nachdenklich. Hier wird der menschliche Egoismus in einer unguten Form angesprochen.

Bitte, keine Mißverständnisse: natürlich soll jeder haben, was ihm rechtens zusteht, natürlich sind wir dankbar, in einem Rechts- und Sozialstaat zu leben.

Aber muß man immer den Buchstaben des Rechtes bis zum letzten I-Tüpferl ausnützen? Oder, andersherum: ist es immer richtig, wenn man das tut? Würde dem besagten Autofahrer ein Stein aus der Krone fallen, wenn er einmal ein paar Schritte zu Fuß ginge? Vielleicht wäre das für seine Gesundheit sogar besser!

Wer immer nur sein Recht haben will, wird nach literarischem Beispiel ein Michael Kohlhaas genannt, aber das war gewiß kein glücklicher Mensch.

Wenn wir von einer Institution unser Recht fordern, denken wir meist nicht daran, daß diese Institution kein Ab-straktum ist, sondern eine Gemeinschaft. Der Staat, die Demokratie, die Krankenkasse - das sind wir selber, jedenfalls immer eine Teilgruppe von uns. Es sind unsere Arbeitsleistungen, unsere Steuern, unsere Versicherungsbeiträge, die wir einbringen, und nur daher kommen die Mittel, unsere Rechtsforderungen zu erfüllen. Das heißt aber, daß in Wirklichkeit immer wir selbst die Rechnung bezahlen müssen.

Wenn alle, die nur einen Schnupfen haben, zum Arzt gingen, wäre in den Wartezimmern kein Sessel mehr frei für diejenigen, die ernstlich krank sind. Weil allzu viele Leute ihre Kopf-wehpülverchen von der Krankenkasse fordern, hat diese die Rezeptgebühr erhöht, und nun müssen alle, die wichtige Medikamente brauchen, dafür mehr bezahlen.

Wenn in einem Unternehmen alle gleichzeitig Urlaub machen wollten, müßte der Betrieb zusperren. Viele tun das auch, aber alle können es nicht.

Also muß man aufeinander Rücksicht nehmen und gemeinsam eine für alle tragbare Lösung finden. Das ist es, worauf es ankommt.

Wenn alle, die genug verdienen, um sich einen Erholungsurlaub selbst zu bezahlen, in Krankenkassenheimen kostenlos Kuren machen wollten, wäre dort für die wirklich Bedürftigen kein Platz mehr. Oder die Krankenkasse müßte ihre Gebühren erhöhen. Es ist immer wieder das gleiche Karussell.

Wir Arbeitnehmer haben alle, Gott sei Dank, den Anspruch auf eine gewisse Zeit der Gehaltsfortzahlung während eines Krankenstandes. Aber müssen wir das unbedingt ausnützen? „Ich habe heuer meine drei Wochen Grippe noch nicht gehabt!“ Na und? Kein Betrieb würde ei aushalten, wenn alle wochenlang krank wären. Und damit wäre nicht nur der Betrieb oder der Unternehmer geschädigt, sondern wir selbst, denn unsere Arbeitsplätze waren in Gefahr.

Es ist gedankenlos, immer nur zu fordern, wo wir uns auch selbst helfen können, weil wir die Leistungskraft der Gemeinschaft allzuleicht mit Bagatellsachen überfordern. Weil mir etwas zusteht, muß ich es haben, auch wenn ich es eigentlich gar nicht brauche? Nehme ich dann nicht vielleicht (unbewußt und ungewollt) demjenigen etwas weg, der es wirklich braucht, aber für den dann nicht mehr genug drin ist im Topf? Das Prinzip jeder Versicherung beruht ja darauf, daß man im Ernstfall geschützt ist, aber in jedem Fall seine Prämie bezahlt - nicht nur um selbst möglichst viel herauszubekommen, sondern damit derjenige am meisten bekommt, der es am nötigsten braucht. Wir. zahlen doch auch unsere Sozialversicherung, damit der Nachbar, wenn er krank ist, sein Spitalsbett hat. Seien wir froh, wenn wir selber gesund sind!

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