6850172-1976_43_11.jpg
Digital In Arbeit

Nach 120 Jahren nicht überholt

19451960198020002020

Wenn ein frischgebackener, gerade 35 Jahre alter Professor der Juristerei nach einem Vortrag über ein einzelnes römisches Geschlecht von zwei Verlegern gebeten wird, gleich eine ganze Römische Geschichte zu schreiben, wenn er es tut und dabei, als junger Mann mit einem gewaltigen politischen Temperament, die Frontstellungen seiner Epoche auf die der Römer projiziert; wenn der Gute dann auch noch mit moralischen und politischen Zensuren um sich wirft, daß es eine Art hat — kommt entweder ein arger Mist heraus, oder ein Geniestreich. Die „Römische Geschichte“ von Theodor Mommsen entstand genau auf oben geschilderte Weise.

19451960198020002020

Wenn ein frischgebackener, gerade 35 Jahre alter Professor der Juristerei nach einem Vortrag über ein einzelnes römisches Geschlecht von zwei Verlegern gebeten wird, gleich eine ganze Römische Geschichte zu schreiben, wenn er es tut und dabei, als junger Mann mit einem gewaltigen politischen Temperament, die Frontstellungen seiner Epoche auf die der Römer projiziert; wenn der Gute dann auch noch mit moralischen und politischen Zensuren um sich wirft, daß es eine Art hat — kommt entweder ein arger Mist heraus, oder ein Geniestreich. Die „Römische Geschichte“ von Theodor Mommsen entstand genau auf oben geschilderte Weise.

Werbung
Werbung
Werbung

Sie wurde einer der großen Sachbucherfolge des 19. Jahrhunderts — und ist noch immer eine der anregendsten, gescheitesten und — bei aller Parteinahme — objektivsten Darstellungen der römischen Geschichte. 50 Jahre nach seiner Entstehung verschaffte dieses Werk seinem Autor den Nobelpreis, und weitere sieben Jahrzehnte später (nämlich heuer) erzielte es als achtbändige Taschenbuch-Kassettenausgabe neue Verkaufserfolge. Mit vollem Recht. Denn Mommsens „Römische Geschichte“ ist unübertroffen.

Als Mommsen an die Arbeit ging, war die wissenschaftliche Ausgangslage viel besser als wenige Jahrzehnte vorher für Barthold Georg Niebuhr. Niebuhr, der ebenfalls eine „Römische Geschichte“ schrieb, befreite die römische Geschichtsschreibung vom Ballast unkritisch übernommener antiker Fehlinformationen, er wurde zum Pionier der Geschichtswissenschaft. Mommsen greift aber kaum auf seine Vorgänger, sondern auf die Primärquellen zurück — er verfügt ja nicht nur über die von Niebuhr geschaffenen geschichtswissenschaftlichen Voraussetzungen, sondern auch über hervorragende Sprachkenntnisse. Dem Vorwurf, Niebuhr nicht genügend Ehre erwiesen zu haben, begegnet er mit der Feststellung, er habe römische Geschichte und nicht die Geschichte der römischen Geschichte schreiben wollen.

Sein Werk verdankt seine Uber-lebenskraft zwei Umständen. Dem einen, daß es im Sachlichen nur in Teilaspekten überholt ist, weil wir heute (abgesehen von archäologischen Befunden) auch nicht viel mehr wissen als er. Und zum anderen gerade dem polemischen Schwung, der schreiberischen Brillanz. Mommsen nimmt Stellung, er beschreibt die römische Geschichte parteiisch — sein Standpunkt ist konsequent italisch, der Vorkämpfer der deutschen Einigungsbestrebungen sieht auch die römische Geschichte als Einigungsprozeß und als Weg zum Nationalstaat.

Als protestantischer Pfarrerssohn hatte Mommsen nach juristischen und philologischen Studien drei Jahre in Italien verbracht, ehe er sich in Leipzig als Professor für römisches Recht etablierte und alsbald auch den Auftrag, die Römische Geschichte zu schreiben, bekam. Man könnte ihn am. ehesten als klassischen Nationalliberalen definieren — zuerst war er für ein geeintes Deutschland, dann erst Demokrat. „Jede noch so mangelhafte Verfassung, die der freien Selbstbestimmung einer Mehrzahl von Bürgern freien Raum läßt, ist unendlich mehr als der genialste und humanste Absolutismus“, schreibt er — am Ende einer Darlegung, in der die Monarchie als Notwendigkeit gezeigt wird. Denn für Mommsen stand die deutsche Einheit in der Rangordnung der zu verwirklichenden Werte eben noch etwas über der Demokratie.

Infolge seiner 1848 an den Tag gelegten Haltung verlor er 1851 seinen Lehrstuhl und ging in die Schweiz. Er wurde später Sekretär der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Wissenschaftspolitiker mit Einfluß, Abgeordneter im preußischen Abgeordnetenhaus (für die Deutsche Fortschrittspartei und dann für die Nationalliberalen) und später im Reichstag (als Sezessionist), vor allem aber wurde er, was er als Verfasser der „Römischen Geschichte“ eben noch nicht gewesen war: Historiker und Professor für römische Geschichte.

Das gleichnamige Werk blieb trotzdem ein Torso: Obwohl der fünfte Band erst drei Jahrzehnte nach den ersten entsteht, endet das Werk unwiderruflich mit dem Jahr 46 vor Christus. Jahrzehntelang macht er Vorstudien für die Darstellung der Kaiserzeit — und betönt doch die ganze Zeit in seinen Briefen, daß es dazu kommen werde. Denn diese Erweiterung widerspricht der Konzeption.

Was Mommsens „Römische Geschichte“ für immer unsterblich machen dürfte, ist wohl gerade der Umstand, daß sie in dieser Weise nie wieder geschrieben werden könnte — weil sich Mommsen in einer schon zu seinen Lebzeiten angefochtenen, heute aber glatt unmöglichen Art über Grundregeln seriöser Geschichtsschreibung hinwegsetzt, wo es ihm um sein wichtigstes Anliegen geht: als Geschichtsschreiber aktuelle politische Wirkung anzustreben. Der von Bismarck verklagte Mommsen prügelt in Wirklichkeit Zeitgenossen, wenn er über Cicero herzieht: „... notorisch ein politischer Achselträger, gewohnt, bald mit den Demokraten, bald mit Pompeius, bald aus etwas weiterer Ferne mit der Aristokratie zu liebäugeln und jedem einflußreichen Beklagten ohne Unterschied der Person oder Partei — auch Cati-lina zählte ja zu seinen Klienten — Advokatendienste zu leisten, eigentlich von keiner Partei oder, was ziemlich dasselbe ist, von der Partei der materiellen Interessen, die in den Griechen dominierte und den beredten Sachwalter, den höflichen und witzigen Gesellschafter gern hatte.“ Der Druckfehler, durch den hier (Band 4, Seite 175) „Griechen“ statt „Gracchen“ steht, ist allerdings fast so unverzeihlich, wie es in Mommsens Augen unverzeihlich war, „eigentlich von keiner Partei“ zu sein — die falsche Partei war für ihn immer noch besser als keine.

Kein Wunder, daß ein solches Werk seit 1854, über alle Umwälzungen hinweg, immer wieder fasziniert, zumal sich Mommsen nicht nur zu einem Vokabular entschloß, das die Absicht, die „Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn“, noch deutlicher hervorhebt (er spricht von „Junkern“ und „Demokratenchefs“, „Kapitalisten“ und „Fabrikanten“), sondern auch die ökonomischen Faktoren als historische Triebkräfte scharf herausarbeitet.

Karl Kautsky wurde Mommsen in seinem Nachruf sicher nicht gerecht, als er Mommsens Standpunkte auf „Angst vor dem Proletariat, Haß gegen das Junkertum und die Sehnsucht nach einem Monarchen, der beiden den Fuß auf den Nacken setzte und im Sinne einer feingebildeten Bourgeoisie regierte“, zurückführte und ihn auf einen Exponenten des liberalen deutschen Bürgertums reduzierte. Dafür unterstellt Egon Frieden George Bernard Shaw, sein Cäsar-Bild Mommsen entlehnt zu haben: „Beide Dichter haben auf wundervolle Weise die ewige Wahrheit, daß das Genie nichts ist als der menschlichste Mensch, in eine neue und glänzende Beleuchtung gerückt.“ Womit Mommsen von Kautsky, ein bißchen aber auch von Frieden, einmal von links und einmal von rechts, mißverstanden wurde.

„Die Wissenschaft von der römischen Geschichte“, schreibt hingegen der bekannte Althistoriker Alfred Heuss, „zeigt noch heute, über ein halbes Jahrhundert nach Mommsens Tod, auf Schritt und Tritt die unmittelbaren Spuren seines Zugriffs. Man ist beinahe versucht, sie als sein Geschöpf zu betrachten. Bei der geringen Aussicht auf eine wesentliche Vermehrung unseres Quellenmaterials wird sich daran auch in Zukunft wohl kaum etwas ändern.“

Was sich seit Mommsens Tod doch geändert hat, stellt im achten Band der Ausgabe Karl Christ in einem umfangreichen Aufsatz über „Theodor Mommsen und die ,Römische Geschichte' “ dar, den man klugerweise vorher liest.

RÖMISCHE GESCHICHTE. Von Theodor Mommsen. Vollständige Ausgabe in acht Bänden, mit einem Essay von Karl Christ; Deutscher Taschenbuch-Verlag, München, 3010 Seiten, öS 754,60.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung