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Nackte und Tote

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Vor fünf oder sechs Jahren zeigte das schwedische Fernsehen in einem Film, dem erklärender Anfang wie erlösender Ausklang fehlt, den Seitensprung einer von ihrem Ehemann vernachlässigten Frau mit einem erlebnishungrigen jungen Mann, der seinerseits seine nette junge Frau bedenkenlos betrog. Geschichten dieser Art sind zu Tausenden geschrieben und verfilmt worden. Wenn es nach dieser Sendung zu einem „Fernsehersturm“ bis dahin nie erlebten Ausmaßes kam, dann deshalb, weil die Kamera den völlig textilfreien Freizeitvergnügungen der beiden Sünder allzu aufdringlich folgte, ohne doch so indiskret zu werden, wie es seither in Dutzenden von Filmen geübt worden ist. Zwei entkleidete Menschen schlüpften in einem Hotelzimmer unter eine Bettdecke, dann drehte die Kamera langsam zur flatternden Gardine. Aus. Kaffee am Bett, überstürztes Ankleiden, betretener Abschied.

Wahrscheinlich würden die schwedischen Fernseher heute gegen ein solches Stück ebenso heftig protestieren, wegen seiner Banalität, Phantasielosigkeit, Langeweile, doch unter keinen Umständen wegen seiner unmoralischen Handlung. Denn so gut wie alle Tabus von damals vermodern heute auf dem Gerümpelhaufen der Vergangenheit. Man kann das beklagen, man kann es begrüßen, sicher ist, daß die absolute Freiheit der Darstellung im schwedischen Fernsehen praktisch erreicht ist. Der Darstellung von erotischen und sexuellen Motiven sind keine Grenzen mehr gesetzt.

Wohl aber verlangt man größtmögliche Objektivität bei der Schilderung von Zuständen und aktuellen Ereignissen und künstlerisches Niveau in der Unterhaltung. Als vor einiger Zeit eine Gitarristin, nur mit einer dünnen, vollkommen durchsichtigen Plastikhülle bekleidet, auftrat, also praktisch nackt, gab es nur deshalb einiges Murren, weil Nackedei einmal einen falschen Akkord gegriffen hatte.

Im Dezember 1966 stellte der schwedische Reichstag fest, freie Meinungsbildung müsse einer der grundlegenden demokratischen

Werte sein, und Rundfunk wie Fernsehen dürften in Schweden niemals unter den Einfluß kommerzieller oder politischer Gruppen geraten. Die Regierung ernennt zwar zehn von den zwanzig Mitgliedern des Rundfunkrates, dieser legt aber nur die Programmpolitik in groben Umrissen fest und hat kein Recht, direkt einzugreifen. Als heuer der Finanzminister gegen eine Indiskretion eines Femsehreporters protestierte, stieß er auf den kompakten Widerstand aller Journalisten und Mitarbeiter des Fernsehens. Man kann die Objektivität eines Programmes beanstanden und es nachher auf seinen Wahrheitsgehalt prüfen lassen, doch niemand — außer den Programmiertem — kann seine Ausstrahlung verhindern.

Keine TV-Werbung

Das Programm soll verschiedene Interessen und Ansichten widerspiegeln, Meinungs- und Informationsfreiheit wahren, Zerstreuung und Unterhaltung bieten und Minderheitsgruppen Aufmerksamkeit schenken. Fernsehwerbung ist verboten. Die Fernsehabgabe beträgt 180 Kronen jährlich, wer nur einen Rundfunkempfänger besitzt, bezahlt 50 Kronen, ein Farbfernseher kostet zusätzliche 100 Kronen Abgabe.

Vor Wahlen und in Zeiten politischer Krisen steht das Fernsehen manchmal im Zentrum heftiger Diskussionen und beißender Kritik. Jedes wichtigere innenpolitische Problem wird von allen im Reichstag vertretenen Parteien kommentiert, also von der regierenden Arbeiterpartei und den vier oppositionellen Parteien. Da die Sendezeit für jede Partei gleich ist, gerät der Sprecher der Regierung oft in eine schwere Situation. Diese Verteilung wurde besonders deutlich bei den Lohnkämpfen der Beamten- und Akademikerverbände im Februar und März, als ein Sprecher nach dem anderen die Regierung mit Vorwürfen überhäufte, während diese selbst kaum zu Wort kam.

Den König sieht man im allgemeinen nur ein- oder zweimal im Jahr, bei der Eröffnung des Parlaments im Jänner und bei der Verteilung der Nobelpreise. Ansprachen des Königs gibt es äußerst selten, und auch die anderen Mitglieder des Königshauses üben weise Zurückhaltung. Der Finanzminister ist gezwungenermaßen öfter auf dem Bildschirm zu sehen, ein Femsehstar ist er deswegen nicht geworden.

Schwedens TV kennt auch kein politisches Tabu. Erregend und erschütternd sind seine Berichte, in denen der Verzweiflungskampf der Vietnamesen gegen die stärkste Militärmacht der Welt gezeigt wird. Hier, und nicht auf dem Gebiet der gewagten Unterhaltung, hat Schweden echte Mauern des Schweigens durchbrochen. Verantwortungslosigkeit, Zynismus und zügellose Gewalt sind damit auch in das abgeschlossenste Heim eingebrochen und haben ein Mitgefühl und ein Engagement erweckt, das weiter im Süden Aufsehen und Verwunderung erregt.

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