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Nationen - eine Realität

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In einer Sommerzeit, da verschiedene Völker ihren Nationalfeiertag festlich begehen oder begangen haben, liegt die Frage nahe, wie es eigentlich. mit dem Patriotismus oder Nationalismus bestellt ist. Ich muß mich gleich selbst berichtigen, indem Patriotismus und Nationalismus keineswegs das gleiche sind. Vielleicht könnte man die beiden Begriffe so unterscheiden, daß Patriotismus etwas mit der Anhänglichkeit an die eigene Heimat zu tun hat, während der Nationalismus etwas Überhebliches, Selbstgerechtes und mit Verachtung oder Feindseligkeit gegenüber anderen Völkern Verbundenes an sich hat. Ein französisches Scherzwort sagt, daß die Nation auf einem Irrtum über einen gemeinsamen Ursprung und auf einer gemeinsamen Antipathie gegen das Nachbarvolk beruhe. In der Tat ist keine einzige europäische Nation „reinrassig“, sondern ein Gemisch aus verschiedenen Völkerstämmen, und andere Nationen sind weder minderwertiger noch schlechter als unsere eigene. Ein Mann aus Südafrika mit einem polnischen Namen sagte mir einmal allen Ernstes, er sei „deutschstämmig“: So groß kann die Sprach- und Begriffsverwirrung sein!

In Europa ist der Nationalismus, seitdem seine Exzesse unsere Alte Welt ins Unglück gestürzt haben, in Verruf geraten. Es ist daher schwierig geworden, der Nation als einer legitimen historischen und politischen Realität Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man darf bloß nicht wieder dem Irrtum verfallen, die Nation mit einem gemeinsamen völkischen Ursprung oder mit sprachlicher Einheit zu identifizieren. Zweifellos hat es eine zweisprachige böhmische Nation gegeben, ehe innerer Zank und äußere Eingriffe sie zerstört haben. Belgien und die Schweiz sind Staatsnationen, desgleichen Österreich — unbeschadet der sprachlichen und kulturellen Verwandtschaften mit Nachbarvölkern. Schottland und Wales sind trotz allen Querelen britisch, die

Bretagne und das Elsaß trotz sprachlichen Verschiedenheiten französisch. Die Geschichte hat solche Zusammenschlüsse geschaffen. Das Entscheidende, wenn man die Nation korrekt definieren will, ist das Zusammengehörigkeitsbewußtsein oder der Patriotismus eines Volkes, sein Wille, gemeinsam im gleichen Staat zu leben, seine Schicksalsverbundenheit, die nicht weniger als in Ländern, deren Sprache und Kultur einheitlich sind, historische Wurzeln besitzt und einen Nationalcharakter hervorgebracht hat.

Wir sollten uns heute nicht mehr fürchten, die Vielheit der Nationalkulturen und ihre Schöpferkraft als einen Reichtum der europäischen Geschichte anzuerkennen. Weil ich den Wert dieser Vielgestaltigkeit hoch einschätze und keine Nation geringschätze, halte ich mich für einen guten Europäer. Europa ist nun einmal weder eine Nation noch ein Vaterland. Vereinbarungen über den Rindfleisch- und Geflügelpreis, selbst die immer noch ausstehenden Abkommen über eine Wirtschafts- und Währungsunion, werden die Lebensenergien Europas schwerlich vermehren.

Dazu kommen Schwierigkeiten sowohl innerer als auch äußerer Art bei den Bestrebungen, Europa zu einigen. Eine innere Schwierigkeit stammt aus technokratisch-organisatorischen Tendenzen, wie sie etwa die Anhänger des Holländers Sicco Mansholt vertreten, die auf eine Art neuen europäischen Totalitarismus hinauslaufen. Eine äußere Schwierigkeit stammt aus der Vermischung des Europagedankens mit dem Atlantischen Bündnis, die eine Satellitisierung Europas durch die Vereinigten Staaten befürchten läßt. Die Motive der verschiedenen Staaten, England, Frankreich, Deutschland usw. mögen verschieden sein; da aber jeder Interessen, die an sich legitim sind, vertreten muß, kommt gegenüber dem Integrationsgedanken die Realität der Nation von neuem zu ihrem Recht.

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