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Neue Völkerwanderung
Eine gigantische Welle von Immigranten erwarten Experten in den kommenden Jahren in Westeuropa. Nach demographischen Studien dürften an die fünf Millionen Menschen aus Osteuropa beziehungsweise aus Nordafrika zu den geschätzten zwölf bis 14 Millionen „Fremden" stoßen, die bereits jetzt in den EG-Ländern mehr oder weniger heimisch sind.
Die Sowjetunion wird mit Beginn kommenden Jahres ihre neuen Paßgesetze verabschiedet haben, die Reisefreiheit für ihre Bürger bedeuten. Eine Schnupper-Völkerwanderung gegen Westen wird die erste Folge sein; ethnische Minderheiten, Arbeitslose und am Existenzminimum dahinvegetierende Sowjetbürger werden sich - zweite Folge - eine neue Lebensbasis im Westen suchen.
In Nordafrika steigen die wirtschaftlichen Probleme, von der Krise sind besonders Algerien, Marokko und Tunesien betroffen. Bereits jetzt gelingt es einer großen Zahl von Nordafrikanern, die bestehenden Visabestimmungen zu umgehen und nach Europa einzusickern. Das Spezif ikum der Immigrationswelle aus Nordafrika ist der kulturelle Unterschied: Moslems treffen auf die sogenannte christlich-abendländische Gesellschaft.
Nicht zu übersehen ist, daß die Migranten aus dem Osten und dem Süden in Westeuropa in eine wirtschaftliche Situation stoßen, die Arbeitskräfte sucht: sinkende Geburtenraten müssen aufgefüllt, drek-kige oder gefährliche Arbeiten wollen erledigt werden. Nicht selten kommt es dabei vor, daß frühere Immigranten - wie Bruno Etien-ne, Soziologe der Universität d'Aix-Marseille, in einer neuen Studie nachweist - sich besonders stark in Anti-Immigrations-Bewegungen engagieren. Spanier und Portugiesen beispielweise unterstützen in Frankreich die Nationale Front Le Pens, weil sie um ihre Jobs fürchten, die die neuen Einwanderer vielleicht um niedrigere Löhne anzunehmen bereit sind.
In der französischen Beaujolais-Gegend waren dieses Jahr arabische und nordafrikanische Gastarbeiter höchst verunsichert, weil Weinbauern auch polnische und rumänische Traubenleser zu niedrigeren Löhnen angeheuert haben.
Die für 1993 angesagten offenen Grenzen im EG-Europa - Stichwort Binnenmarkt mit freiem Personen-, Waren- und Kapital verkehr - dürften das Problem noch verschärfen. Der britische Labor-Abgeordnete Glyn Ford, Herausgeber einer Untersuchung über den Rassismus für das Europa-Parlament, ist der Ansicht, daß sich „der Rassismus in Europa verschlimmert" habe - wegen der starken Immigration. „Es bildet sich eine neue Unterklasse heraus, und wir haben die Aufgabe, diese Leute vor Ausbeutung zu schützen, wenn einmal der europäische Binnenmarkt errichtet ist." Die Studie empfiehlt die Schaffung einer „Europäischen Aufenthalts-Charta", die legalen Immigranten dieselben Rechte garantieren soll, die für EG-Bürger gelten. Die Annahme einer solchen Charta wird sich aber nicht verwirklichen lassen, weil sich das Europa-Parlament nicht dem Vorwurf aussetzen möchte, zu lax in der Immigranten-Frage zu agieren.
Ist der Vormarsch der Rechten in Europa - in Frankreich und in Italien hat die Nationale Front beziehungsweise die Lombardische Liga auf lokaler Ebene beachtliche Erfolge erzielt, westliche politische Beobachter deuten auch den Aufstieg der österreichischen Freiheitlichen in diesem Sinn - die einzige Antwort des Alten Kontinents auf das Phänomen der neuen Völkerwanderung? Sind rassische oder religiöse Gründe für aufkeimende und von den Rechten politisch geschürte Intoleranz ausschlaggebend?
Der vorhin erwähnte Soziologe Etienne kommt in seiner Studie zum Ergebnis, daß sich zur religiös und rassisch motivierten Aversion etwa gegenüber den Osteuropäern heute auch die Verachtung einer bei diesen vermuteten schlampigen oder niedrigen Arbeitsmoral gesellt.
Bruno Etienne erwartet Konflikte auf religiöser und rassischer Basis zwischen Europäern und schwarzen beziehungsweise moslemischen Einwanderern sowie Spannungen zwischen Ost- und Westeuropäern. Im Gegensatz zu den 30er Jahren - so Etienne - werde die Auseinandersetzung aber ohne Unruhen verlaufen - eine optimistische Aussicht.
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