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Reform des Strafwesens

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Die Zahl der Straftaten in Ungarn steigt. 1986 hat die Kriminalität gegenüber dem Vorjahr um 10,3 Prozent zugenommen. Jetzt entwickelt man neue Modelle eines humanen Strafvollzugs.

Ungarns Strafvollzugswesen erweist sich immer reformbedürftiger — auch dann, wenn man über bereits seit Jahren laufende Reform-Experimente berichten kann, die die Humanisierung des Lebens hinter Gittern bezwecken. Es gibt in einigen Anstalten die sogenannten „Selbsttätigen Gruppen”, die in ihrer Abteilung eine teilweise Selbstverwaltung praktizieren: Die Insassen wählen ihre Aufseher aus den eigenen Reihen, sie geben eine Gefängniszeitung heraus und verfügen über Klub- und Konditionsräume. Die jungen, bereits in einem anderen Geiste als ihre Vorgänger ausgebildeten Erziehungsoffiziere spielen dabei nach Möglichkeit eine richtungweisende beziehungsweise beratende Rolle.

Dieser Versuch hat sich als erfolgreich erwiesen. Seiner breitere Kreise erfassenden Realisation stehen jedoch zahlreiche Hindernisse im Wege. Eines davon ist die Regelung der Beschäftigung im Strafvollzug, dessen Reformpläne vor kurzem erstellt worden sind.

Nach der bisherigen Praxis weicht die im Rahmen des Strafvollzuges stattfindende Beschäftigung von den in der Freiheit geltenden Normen in vieler Hinsicht ab. Die im Gefängniswesen tätigen Unternehmen—die einen Jahresumsatz von rund vier Milliarden Forint haben - wenden zwar die Paragraphen des Arbeitsgesetzbuches an, jedoch auf eine angepaßte Weise: Obwohl der Sträfling zur Arbeit verpflichtet ist, entsteht zwischen ihm und seinem Arbeitgeber kein Arbeitsverhältnis, das bei der Rente angerechnet werden könnte.

Zugleich ist er manchen Zwängen unterworfen: So kann er weder seinen Arbeitsplatz noch seine Position bestimmen. Dies bedeutet freilich auch für den Arbeitgeber gewisse Beschränkungen, da er jeden Sträfling beschäftigen muß, auch wenn dessen Ausbildungsgrad mit den Erfordernissen der Produktion nicht im Einklang steht. Hierbei muß man auch noch berücksichtigen, daß ein hoher Prozentsatz der Insassen — unter ihnen zahlreiche Wiederholungstäter — über gar keine Ausbildung verfügt und nicht einmal die acht Grundschuljahre absolviert hat. Es kommt auch häufig vor, daß manche überhaupt zum ersten Mal im Leben eine regelmäßige Arbeit verrichten müssen.

Die arbeitenden Häftlinge werden von zwölf, mit den Anstalten vertraglich verbundenen Firmen beschäftigt. Das Jahresdurchschnittsgehalt im Industriezweig betrug im Vorjahr rund 27.000 Forint, im Landwirtschaftssektor etwa 26.000 Forint.

Das Reformkonzept beinhaltet Pläne für die nächsten 15 bis 20 Jahre und bestimmt die wesentlichsten Erfordernisse. Dabei geht man vor allem von einem Zuwachs der zu beschäftigenden Sträflinge aus, für die wiederum die Voraussetzungen geschaffen werden müssen.

Die technologische Modernisierung kann dabei nicht zu einer verminderten Beschäftigung führen. Als primäre Aufgaben gelten dabei: die Erhöhung der Intensität der Erziehung, die Steigerung von Produktivität und Effizienz, ferner die Verwirklichung der Vollbeschäftigung. Im neuen Modell sollen die Insassen die Möglichkeit erhalten, sich eine Ausbildung anzueignen. Die in der Volkswirtschaft zur Praxis gehörenden Entlohnungs- und Verteilungsprinzipien werden von nun an auch geltend gemacht.

So bedeutet die Einführung der Leistungsentlohnung die Zahlung von Prämien. Die arbeitenden Sträflinge erhalten die Berechti-

Bloß einsperren ist inhuman gung zur Versicherung, wobei die für die Arbeit aufgewendete Zeit in bezug auf die Rente als Arbeitsverhältnis anerkannt wird. Nach der Verbüßung ihrer Strafe werden die Kranken Krankengeld erhalten.

Die auf Humanisierung und gleichzeitig auf die Erhöhung der wirtschaftlichen Effektivität abzielenden Reformpläne verheißen zweifelsohne positive — wenn auch längst fällige und notwendige - Veränderungen. Man darf dabei allerdings nicht außer acht lassen, daß in Zukunft mit einer Zunahme der Insassen gerechnet wird. Dies bedeutet vor allem, daß die Regierung von der Notwendigkeit der konsequenten Anwendung von Maßnahmen ausgeht, die zum Schutze des sogenannten „gesellschaftlichen Eigentums” dienen.

Nicht nur die strengere Verfolgung der von skrupellosen Nutznießern und Parasiten des Systems begangenen, oft wahrhaftig unerhörten Diebstähle ist damit gemeint, sondern auch die Bestrafung jener, deren Verantwortungslosigkeit, Trägheit und auch Unfähigkeit die Wirtschaftskriminalität fördert. Der stets zur selbstzerfleischenden Bitterkeit neigende Budapester Humor wertet die Pläne als „Vorbeugungsmaßnahmen”.

Sie sollen, so heißt es, dem Unwohlsein jener Verantwortlichen vorbeugen, die in Zukunft in den Strafvollzugsanstalten endlich einmal zur regelmäßigen Arbeit verpflichtet werden.

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