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„Sie lieben mich nicht!“

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Während die traditionelle Psychotherapie darauf abzielt, den seelisch verhaltensgestörten Menschen wieder zu einem funktionstüchtigen Mitglied der Gesellschaft zu machen, versucht die von dem amerikanischen Psychologen Arthur Janov entwickelte Primärtherapie, den Neurotiker zur Harmonie mit sich selbst zu bringen, gleichgültig, ob er danach besser oder schlechter „funktioniert“.

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Während die traditionelle Psychotherapie darauf abzielt, den seelisch verhaltensgestörten Menschen wieder zu einem funktionstüchtigen Mitglied der Gesellschaft zu machen, versucht die von dem amerikanischen Psychologen Arthur Janov entwickelte Primärtherapie, den Neurotiker zur Harmonie mit sich selbst zu bringen, gleichgültig, ob er danach besser oder schlechter „funktioniert“.

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Freud war der Ansicht, der Anfang einer Neurose könne nicht bestimmt werden, da der Mensch seit dem Augenblick seiner Geburt einer unüberschaubaren Vielzahl mehr oder weniger erträglicher Belastungen ausgesetzt sei. Die Primärtherapie baut dagegen auf der Annahme auf, daß wir nur als wir selbst geboren werden. Der Mensch wird nicht neurotisch oder psychotisch geboren, meint Janov, er wird einfach geboren. Im Rahmen der Pri-märtiherapie setzt der neurotische Prozeß dann ein, wenn menschliche Grundbedürfnisse, wie Hunger oder Auf-den-Arm-genommen-Wer-den, konstant nicht befriedigt werden. Der psycho-biologische Schmerz, dem das Kind dauernd ausgesetzt ist, erreicht schließlich eine Schwelle, an der er unerträglich wird. Durch die Ausbildung der Neurose wird der Schmerz ins Unterbewußtsein abgedrängt, ein Abwehrsystem wird aufgebaut, und die Primärbedürfnisse werden nicht mehr direkt, sondern ersatzweise durch ein symbolisches Verhalten zu befriedigen gesucht.

Die Primärtherapie hat den Abbau der Spannungsursachen, des Abwehrsystems und der Neurose zum Ziel. Eine Grundannahme der Primärtherapie ist es, daß die gesündesten Menschen jene sind, die völlig abwehrfrei sind und ihrer Umwelt und den Mitmenschen aufgeschlossen und sensibel gegenüberstehen können. Alles, was ein stärkeres Abwehrsystem aufbaut, verstärkt die Neurose.

Der Neurotiker ist unfähig, am Leben teilzunehmen, sich an ihm zu erfreuen. Die Primärtherapie will eine Seinsweise erreichen, die ganz anders ist als das, was sich der Neurotiker unter Glück vorstellt: kein neues Auto, nicht Erfolg im Beruf, bei Frauen oder in der Erziehung seiner Kinder, sondern ein spannungsloses, abwehrfreies Leben, bei dem man ganz man selber ist, tiefes Gefühl und innere Maßstäbe kennenlernt.

Jedes Kind wird nach Ansicht Janovs in die Bedürfnisse seiner Eltern hineingeboren und muß sie zufriedenstellen. Mit dem Heranwachsen des Kindes werden die Anforderungen dann immer komplexer. Das Kind beginnt sich so zu verhalten, wie die Eltern es wünschen. Es verhält sich irreal — also nicht in Übereinstimmung mit der Realität seiner eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Binnen kurzem wird das neurotische Verhalten automatisch.

Der entscheidende Punkt für die Entwicklung der Neurose ist der Zeitpunkt, an dem das Kind in einer „Primärszene“ entdeckt, daß es nicht geliebt wird. Diese Primärszene findet meist im Alter von fünf bis sieben Jahren statt, oft auch schon viel früher, sogar im Säuglingsalter kann es Primärszenen geben. Mittels der Neurose versucht das Kind, so zu sein, daß ihm seine Eltern Trost und Liebe geben.

Die Primärtherapie sieht in der Neurose die Synthese von zwei miteinander in Konflikt befindlichen Selbst oder Systemen. Das irreale System hat die Funktion, das reale zu unterdrücken, aber weil reale Bedürfnisse nicht ausgerottet werden können, nimmt der Konflikt kein Ende. Aufgabe der Primärtherapie ist es, den Menschen zu helfen, dadurch real zu werden, daß sie das symbolische Tun überwinden und zu ihren realen Gefühlen gelangen. Was der Neurotiker an Stelle von realen Gefühlen empfindet, sind Grade von Spannung. Diese Spannung ist als Teil der Neurose ein Überlebensmechanismus, der den Körper zur Bedürfnisbefriedigung antreibt oder den Organismus davor schützt, katastrophale Gefühle zu empfinden.

Diese Unterdrückung bedeutet allerdings nicht, daß der Urschmerz verschwindet; der Urschmerz ist immer da, nur ist er in einem allgemein gewordenen Spannungszustand auf den ganzen Körper verteilt. Die Abwehrsysteme sind vielfältig, ihre Bedeutung liegt jedoch nur darin, den Urschmerz zu verschleiern. Janov unterscheidet zwischen unwillkürlichen Abwehrmechanismen, wie Phantasien, Bettnässen, Zähneknirschen, Alpträumen — und willkürlichen, wie Rauchen, Trinken, Drogen nehmen, sich Uberessen. Außerdem perpetuiert sich die Neurose in muskulärer Verkrampfung und in einer ganzen Reihe psychosomatischer Störungen, wie Asthma, Magengeschwüren, Kopfschmerzen.Selbst wenn ein Neurotiker glaubt, ein großes emotionales Erlebnis zu haben, in einer normalen Therapiegruppe etwa, hat er dennoch keine Vorstellung von der ungeheuren Gewalt und dem Ausmaß des unterdrückten neurotischen Gefühls. Tränen und Schluchzen in der konventionellen Gruppentherapie sind nur winzige kleine Nebenkrater des riesigen, noch untätigen Vulkans im Inneren, der sich aus Tausenden von verleugneten und verdichteten und nach Befreiung drängenden Erlebnissen zusammensetzt. Die Primärtherapie befreit diesen Vulkan stufenweise.

Die Behandlung beginnt mit einer 24stündigen Isolierung des Patienten. In einem halbdunklen Sprechzimmer legt sich der Patient dann auf die Couch, die Arme sind ausgebreitet, die Beine gespreizt — diese Haltung ist eine besonders abwehrlose Körperhaltung. Dann spricht der Patient von seinen Spannungen und Problemen, insbesondere von seiner Kindheit, und wird vom Therapeuten in besonders schmerzliche Situationen seiner Vergangenheit versetzt. Stückchenweise erlebt er isolierte und aus einzelnen Teilen bestehende Geschehnisse, die mit der Ausbildung seiner Neurose in Zusammenhang stehen. Wenn sich alle Bruchstücke zu einem sinnvollen Ganzen vereinigen, reißt sich deT erste Urschrei los: „Pappi, sei lieb!“, „Mammi, hilf mir!“ Oder einfach „Mammi! Pappi!“ oder „Haß“.

Drei Wochen lang wird der Patient in Einzeltherapie behandelt, etwa zwei bis drei Stunden täglich. Darauf folgen mehrere Monate Gruppentherapie. Mit Beginn der zweiten der drei Einzeltherapiewochen kommt es fast täglich zu Urerleb-nissen. Bleibt der Patient sich selbst überlassen, wird sein Gefühl ihn zu seinen Anfängen zurückführen, aber das wird nicht geschehen, wenn der Therapeut und der Patient das Gefühl erörtern.

Postprimäre Gruppen treffen einander zweimal wöchentlich für drei oder mehr Stunden. Die Gruppe besteht aus Patienten, die eine Einzeltherapie hinter sich haben. Die Hauptfunktionen der Gruppe ist es, die Gruppenmitglieder zu neuen Ur-erlebnissen anzuregen, da die generell emotionale Atmosphäre in der Gruppe weitere Urerlebnisse hervorlockt. Das Urerlebnis eines Patienten mag die Urerlebnisse von zwei oder drei anderen auslösen.

Janov meldet erstaunliche Erfolge: Seit der Gründung seines Instituts 1970 in Los Angeles habe er 600 Patienten von ihrer Neurose befreit. Die positive Wirkung der Primärtherapie soll nicht angezweifelt werden, aber ist die Kausalbeziehung „mangelnde Elternliebe — Neurose“ nicht doch etwas zu simpel und einseitig? Denn das lieblose Verhalten der Eltern, das die Neurose herbeiführt, hat nach Janov seine Ursache im lieblosen Verhalten der Großeltern und so fort. Können nicht auch schädliche Umwelteinflüsse, die gar nichts mit den Eltern zu tun haben, wie etwa Kriegsschrecken, kinderfeindliche Großstädte oder zu häufige Übersiedlungen neurosebildend wirken? Sprechen solche Neurosen auf die Primärtherapie an? Davon weiß Janov nichts. Seine Therapie scheint einseitig auf die Kinder amerikanischer Mittelstandsfamilien zugeschnitten zu sein, die unter besonders hohem Leistungsdruck stehen. Aus diesem Milieu scheint das Gros der amerikanischen Neurosepatienten zu kommen — in ärmeren Schichten ist Schizophrenie viel häufiger als Neurosen — und aus diesem Mittelstand kommt offensichtlich auch die Primärtherapie.

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