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Südlich von Neapel

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Durch diese Gegend haben die Römer ihre Beute- und Gefangenenzüge aus dem Osten entlang der Via Appia getrieben; hier waren Normannen und bajdąuch Kreuzfahrer; vor 150 Jahren, bevor die Barone das Holz fällten, um ihre Abgaben an den Statthalter Murat entrichten zu können, lagen ausgedehnte Eichenwälder über Berghang und Tal.

Mit dem Verschwinden der Wälder änderte sich das Klima, weniger vielleicht die Menschen. Die Einwohner von Torregreca, einem Ort wie viele andere im Gebiet südlich von Neapel — der Name wurde erfunden, aber die Menschen sind lebende Personen —, haben sich seit vielen Generationen sicherlich kaum geändert. Wie sollten sie es auch? Ein Dasein am Rande dessen, was wir nicht mehr als Existenzminimum betrachten wüiläen, menschenunwürdige Behausung, eine infolge kaum vorhandener Verbindung mit der fernen Großstadt völlige Isolierung prägen den Charakter von Torregreca. In diesem Milieu tauchte 1959 eine junge Amerikanerin auf, die im Aufträge einer internationalen Wohltätigkeitsorganisation zuerst in Torregreca und nach und nach in anderen Dörfern Kinderheime gründen sollte. Glaubt map, schon voraussehen zu können, wie kläglich die Fremde versagen wird? Ist man nicht außerstande, sich eine Amerikanerin nicht einmal italienischen, sondern skandinavischen Ursprungs in einer solchen Gemeinde vorzustellen? Frau Comelisen aber kömmt nicht unvorbereitet. In langen Wanderungen hat sie die Menschen in angrenzenden Gegenden und auch ihre Sprache kennenge- lemt — nur mit der Schriftsprache kommt man hier nicht weit — und sie ahnt, welche Klippen sie zu überwinden hat, will sie da® Vertrauen von Menschen gewinnen, unter welchen die wenigsten jemals eine Ausländerin erblickt haben. Beobachtete man sie geradezu Tag und Nacht mit unersättlicher Neugierde, verursachte die von ihr selbst freimütig zugegebene Feststellung, daß sie Protestantin sei, einen Skandal sondergleichen. Die ehrwürdigen Schwestern des Klosters von San Fortūnato reagierten mit besonderer Heftigkeit, und nur die Erklärung des Bischofs, daß ihm diese Tatsache sowohl längst bekannt als auch egal sei, konnte die Schwestern allmählich von der Überzeugung befreien,

sie hätten eine Tarantelspinne von besonderer Bösartigkeit unter sich geduldet, bösartig in dem Sinne, daß eine Spinne nichts dafür könne, eine Protestąntin aber sehr .wohl, sie sündige mit Vorsatz.

Mit Geduld, Ausdauer und nicht zuletzt mit einer seltenen Begabung für den erfolgreichen Umgang mit geistig schmalspurigen Amtspersonen gelingt es Frau Comelisen, ihr Kinderheim zu bauen, wo der Versuch unternommen werden konnte, den Kindern einen Ausgleich für die tristen Umstände, unter denen sie leben mußten, zu bieten.

Dieses Buch ist ein wahres Erlebnis; man sollte es in der Masse des Angebots nicht übersehen.

TORREGRECA — eine Stadt südlich von Neapel. Von Ann Cornell- s en. Aus dem Amerikanischen von Alexander von Platen. Goverts- Verlag. 312 Seiten, DM 25.—.

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