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Sympathische Erinnerungen

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Nach Ranke will „Geschichte erzählen, wie es gewesen ist“. Aber jeder Geschichtswissenschaftler steht immer wieder vor der Frage, ob beziehungsweise wie er dieser Forderung nachkommen kann. Was ist letztlich das wirklich Gewesene? An sich gibt es ja nur die handelnden und die ihr eigenes Handeln und das der anderen erlebenden Menschen. Was für den einen Triumph war, kann für den anderen Niederlage bedeuten, und des einen Leid ist nur allzuoft des anderen Freud! In gewisser Beziehung sind deshalb Memoirenbände die verhältnismäßig ehrlichsten Geschichtsdarstellungen.

Das Buch von Friedrich Scheu, der sich vorgenommen hat, Österreichs Schicksalskurve 1929 bis 1938 nach eigenem Erleben, aber auch unter Heranziehung zahlreicher anderer Quellen zu beschreiben, wird man zweifellos zu dieser wertvollen Memoirenliteratur zählen dürfen. Ja, wer wie der Rezensent seine

Kindheit in der Wiener Wipplinger-straße erlebte, im Park vis-ä-vis dem Telegraphenamt seine frühesten Geh- und Spielversuche absolvierte, die hellerleuchteten Fenster von Radio Austria abends ebensooft sah wie das Cafe Louvre tagsüber, durch seine Famüie den Bankenkrach, die Affären der Creditanstalt miterlitt usw., dem scheint in diesem Buch ein Stück eigenen Lebens — von anderer Seite gesehen — entgegenzutreten.

Die Seite, auf der der Verfasser steht — nämlich die der Sozialdemokratischen Partei vor 1938 —, wird in keiner Zeile seines Werkes verdeckt. Trotzdem muß man sagen, daß man selten einem so ehrlichen Bestreben nach „objektiver Erkenntnis“ begegnet, wie dies bei Friedrich Scheu der Fall ist. Dies zeigt sich etwa bei der Schilderung von Seipels Koalitionsangebot im Jahr 1931 (S. 84), der Entmythologisierung der Februar-Ereignisse 1934 (S. 143 ff.), dem noblen Hinweis, daß „gerade der nationalsozialistische Standpunkt in Österreich in der Zeit nach 1945 nicht mehr zu Wort gekommen ist“ (S. 193) und vielen anderen Stellen. Wer die österreichische Innenpolitik nach 1945 genauer verfolgte, wird sich eines Schmunzeins nicht erwehren können, wenn er vom Druck der Jungen in der Sozialdemokratischen Partei liest, zu denen damals Oscar und Marianne Pollak, der Rudolfsheimer Bezirksfunktionär Karl Holoubek und die attraktive Jugendführerin Rosl Jochmann aus dem Bezirk Simme-ring (S. 55) zählten. Die Geschichte wiederholt sich — oder doch hoffentlich nicht.

Das Buch von Friedrich Scheu zeigt — was damals von Österreich nicht genügend berücksichtigt wurde —, wie sehr die Sympathien der Welt oder zumindest der maßgeblichen demokratischen Mächte auf seifen der Gegner des Regimes von 1934 bis 1938 standen. Es zeigt aber auch, wie geradezu naiv auch auf Seiten der Sozialisten die herannahende Gefahr der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unterschätzt wurde. Der Verfasser selbst bezeichnet es im Rückblick als grotesk, daß man sich in den ersten Monaten des Jahres 1938 — den letzten der Ersten Republik — zum Beispiel über das Problem eines Parteiabzeichens erhitzte: „Die Sozialisten wollten ihre traditionellen .Drei Pfeile', die Kommunisten waren damit nicht einverstanden.“ (S. 287.)

Natürlich kann man in Einzelheiten Kritik anbringen. Wie leider allzu viele österreichische Juristen, sieht der Verfasser beispielsweise den überragenden Gelehrten Professor Hans Kelsen einseitig nur von dessen seinerzeitigem Hauptwerk, der „Reinen Rechtslehre“ her (S. 109 f.) und übersieht, daß Kelsen eigentlich Österreichs erster Ideologiekritiker, Politologe und Rechtssoziologe war. Ganz falsch ist die Darstellung der Selbstausschaltung des Nationalrates im Jahr 1933, denn hätten die Sozialdemokraten wirklich den Rücktritt des damaligen Präsidenten Dr. Karl Renner gewollt, damit dieser stimmberechtigt werde, dann hätten sie ja beim Versuch einer Wiederholung der Abstimmung nicht den Abgeordneten Seitz die inzwischen in die Geschichte eingegangenen Worte sagen lassen dürfen: „Das kann nicht einmal der liebe Gott! Das kann kein Mensch!“ Aber auch wenn nicht alles „so gewesen ist“ (Ranke), wie es Friedrich Scheu beschreibt oder gesehen hat, zählt sein Werk doch zu den sympathischen Erinnerungsbüchern an schicksalsschwere Zeiten unsers Vaterlandes, die man gelesen haben sollte.

„DER WEG INS UNGEWISSE.“ — Österreichs Schicksalskurve 1929 bis 1938. Von Friedrich Scheu. Molden-Verlag, Wien.

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