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Tradition fürs Heute

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In den gängigen philosophischen Wörterbüchern fehlen heute die Begriffe „Tradition“ und „Uberlieferung“, in den religiösen wenden sich die Verfasser allzu unvermittelt theologischen Teilproblemen zu. Dieses Faktum allein stellt schon einen hinreichenden Grund für die Beschäftigung mit Inhalt und Zweck der Tradition in der Gegenwart dar. Der von Univ.-Prof. Herbert Schambeck als „einer der ersten Vertreter deutscher Geistigkeit“ bezeichnete Münsterer Ordinarius Josef Pieper kam nach Wien, um zu diesem Thema zu referieren.

Pieper, der sich in seinem literarischen Oeuvre in den letzten Jah-

ren dem Problem de Sprache, ihrer Rolle, Veränderung und Macht zugewandt hat, beginnt seine Gedanken zur Tradition mit Schlagworten. Die „Programmworte“, die zunächst sicherlich als Antipoden von Überlieferung angesehen werden, heißen Entwicklung, Verwandlung, Veränderung, neue Errungenschaften, Fortschritt. Als solche des typischen Vokabulars der Tradition nennt Pieper „Orthodoxie, ag-giornamento und Entmythologi-sierung“.

Hier stutzten die Zuhörer zum ersten Mal. „Aggiornamento“ müsse in der Wissenschaft jeden Tag geschehen: eine Beibehaltung der Identität des Eigentlichen unter Anpassung an den Tag. Je entschiedener der Bewahrungswille auf das Entscheidende gerichtet sei, desto eher könne die Tradition auch einen großen Bruch im Äußeren bewältigen: „Neuformulierung für geänderte Verhältnisse, Ubersetzungen ins Heute sind notwendig!“

Tradition hat also mit Versteinerung nichts zu tun. Pieper kann sich nichts Hoffnungsloseres vorstellen, als jemanden die War-um-Frage eines jungen Menschen zur Uberlieferung mit „Das ist Tradition“ beantworten zu hören. Tradition sei eine „ganz dynamische Sache“, daß man von ihr gar nicht reden müsse, wenn man die Überlieferung präsent halte. Die Berufung auf Tradition könne aber auch an einem falschen Ort geschehen; das Problem, vor dem Blaise Pascal stand, ist längst gelöst: Bei den empirischen Wissenschaften habe Tradition nichts zu suchen, hier zählen Erfahrungen und Argumente!

Stellt die Tradition kein Gespräch dar, so auch keinen Lernprozeß. Es finde kein Erkennen statt; der Empfänger müsse sich etwas sagen lassen, er könne es sich nicht selbst nehmen. Der Uberlieferungsprozeß ist nur dann abgeschlossen, wenn die letzte Generation das Gut erhalten hat, sonst hat Tradition nie stattgefunden.

Auch ein vollständiges Wissen um die Traditionsinhalte reiche für eine Tradition nicht aus. Trotz der Kenntnis der Tradition könne Tradition völlig fehlen. Karl Jaspers spricht von der Möglichkeit, daß vielleicht alle Werte einmal bekannt sind, aber nichts überliefert ist.

In .jedem Bereich der menschlichen Existenz“ kann Tradition bestehen: Gruß- und Redensarten, Eßgewohnheiten, Feste und Feiern. Nirgendwo sonst soll der

Tradition eine so starke Bedeutung zukommen wie bei den Festen. Aber auch der Ausfall mancher Feiern sei möglich, ihr langsames Verschwinden, ja sogar ihre Abschaffung.

Während 1944/45 in Köln Schützenfeste und Karneval ausgefallen sind, wurden Ostern und Weihnachten mit besonderer Andacht begangen. Würde man aufhören, diese besonderen Feste zu feiern, könnte man von Traditionsverlust, Traditionsbruch, Traditionslosigkeit sprechen. Sonst sollte man mit diesen Begriffen nicht allzu schnell bei der Hand sein.

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