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Trinker und Reformer

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Peter der Große ist eine jener wenigen Persönlichkeiten der russischen Geschichte, die auch im Westen ein Begriff sind — nicht zuletzt als Gründer jener Stadt an der Ostsee, die heute den Namen eines anderen Tatmenschen, nämlich Lenin, trägt. Die TV-Serie „Peter der Große“ kann für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, einem breiteren Publikum russische Zwiebeltürme, goldstrotzende Ikonostasen, gefühlgeladene Kirchengesänge, üppige Gewänder vor Augen zu führen — eben so wie man sich Rußland vorstellt.

Hühnchenfettige Finger werden an kostbaren Pelzen abgestreift, Strelizenköpf e schlägt der Zar eigenhändig ab - die Russen sind also noch etwas barbarischer als man dies ja schon zu wissen glaubt. Russische Menschenleben sind zwar nicht so weit von uns, doch für die meisten Österreicher sind sie exotischer als Amerikaner oder die Eingeborenen fernöstlicher und afrikanischer Urlaubsländer. Der Sowjetstaat selbst verhindert engere menschliche Kontakte über die Grenzen hinweg, weshalb TV-Ereignisse wie „Peter der Große“ eine überdimensionierte Bedeutung erhalten.

Die Russen lieben den Alkohol, und sogar der reformfreudige Peter beginnt schon in jungen Jahren mit dem Trinken. Zeitweise scheint es, als würde sich das Interesse Peters an allem Westlichen auf den schottischen Whisky konzentrieren. Er lernte den Whisky in der isolierten Moskau-

er Ausländerkolonie kennen.

Heute, 300 Jahre danach, sind die Devisengeschäfte der westlichen Ausländer in Moskau für den durchschnittlichen Sowjetbürger noch immer der Hort des Exklusiven, ja des Verbotenen. Wie viele Sowjetbürger kosten auch heute noch am Tisch eines Ausländers zum ersten Mal schottischen Whisky?

Das Aufeinanderprallen von westlichem und traditionellem

russischen Gedankengut zieht sich wie ein Leitmotiv durch die TV-Serie, aber sogar bei den Dreharbeiten in der sowjetischen Museumsstadt Susdal, 300 km östlich von Moskau, im Winter 1984/ 85, trat der Konflikt an die Oberfläche. Die Mitglieder des westlichen Filmteams empörten sich, weil manches nicht funktionierte, und sie mögen dabei den Gegensatz zwischen Kommunismus und Kapitalismus gemeint haben.

In Wirklichkeit erlebten sie hautnah das selbst, was sie laut Drehbuch zu verkörpern hatten: ein anderes Gefühlswesen, eine andere Welt des Denkens. Bärtige Bauerngesichter, abgründige Leidenschaften, viehische Brutalitäten und archaisch anmutender Fanatismus, so transportiert die TV-Serie das „Anderssein“ der Russen, vor allem der Traditionalisten, mit denen Peter zu kämpfen hatte.

Mag sein, daß dies oberflächlich

ist, aber kann ein TV-Film überhaupt tiefer gehen, ohne sich ins Esoterische zu verlieren? Problematisch ist dabei eben nur, daß vorhandene Urteile und Vorurteile verstärkt werden. Sie werden nicht modifiziert.

Ob die Darsteller von ihren Gesichtszügen und ihrem Charakter her richtig ausgewählt worden waren, sei dahingestellt. Genauso ob die historischen Details immer richtig wiedergegeben werden, ich verfolgte die vier Teile von „Peter der Große“ mit einiger Spannung, und zwar wegen der aktuellen zeitgeschichtlichen Bezüge.

Generalsekretär Michail Gorbatschow wird von Sowjetspezialisten in seinem Modernisie-rungs- und Reformdrang gern mit Peter dem Großen verglichen. Gorbatschow hat für sein Land eine Art nationalen Notstand ausgerufen. Man müsse mehr und besser arbeiten, um den wirtschaftlichen und technologischen Abstand zum Westen nicht noch größer werden zu lassen.

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: 300 Jahre nach Peter dem Großen will in Rußland wieder ein Mann das Ruder herumreißen, und er stößt auf starken Widerstand der Traditionalisten. Rußland ist anscheinend kontinuierlicher Entwicklungsprozesse nicht fähig. Rußland braucht Tatmenschen. Dies gerade jetzt illustriert zu haben, ist auch ein Verdienst der TV-Serie „Peter der Große“.

Der Autor war ORF-Korrespondent in Moskau und ist Mitglied der Osteuroparedaktion des ORF.

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