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Unterspieltes Leid

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Was zeigt die zeitgenössische Literatur über das Leid? Sie ist voll davon, voller Hiobsbotschaften, Gleichnissen des Grauens, Zeichen des Unglücks, voller Qual und Rätsel. Düster und frostig ist ihr Humor, untergründig und galgensüchtig, brutal und geil. Eine Literatur, sollte man meinen, so recht geschaffen, um der Realität des Leidens beizukommen.

Wirklich? Das ist die Frage. Denn merkwürdigerweise befaßt sich dieser moderne Weltschmerz sehr selten mit dem konkreten und ganz persönlichen Leid. Wo Leid zum Gefühl wird, hört die Literatur auf. Der Horror vor dem Sentimentalen ist zu stark.

Ein fast unscheinbares Buch, das in dieser Situation eine Ausnahme bildet, wird dadurch zum Ereignis. Die Totenklage eines Vaters um seinen Sohn, die Hans Frick in seiner Erzählung „Henri“ erhebt, ist menschlich so überzeugend, daß sie viel von den artistischen Problemen aufhebt. Ein kompromißlos unmittelbares Buch.

Ob der Story ein Vorfall aus dem sogenannten wirklichen Leben zugrunde liegt, sei dahingestellt. Es ist anzunehmen. Und wenn ės so ist, datin beweist dtis wieder’einmal, um wieviel stärker die reale Erschütterung ist als die gesuchte Erfindung. Was kein Plädoyer für den Naturalismus, sondern nur die Anerkennung eines Naturgesetzes ist.

Hans Frick schildert äußere und innere Verhaltensweisen eines unbürgerlichen Schriftstellers, dessen etwa zehnjähriger Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. Das Kind stammt aus einer mittlerweile zerbrochenen, aber weiter kontaktierten Ehe. Die Vater-

Sohn-Beziehung, die darunter nicht gelitten hat, wird dem Leser in Rückblenden vor Augen geführt. Es ist eine unautoritärexBeziehung, dife aber’Von gängigen’“Klischees des Kameraden-Vatis oder des Gönner- Vatis weit entfernt ist. Fricks Vaterbild ist gar nicht so leicht einzuordnen. Es läßt sich etwa kennzeichnen durch ein selbstverständliches So- sein, das weder Schwächen noch Vorzüge korrigiert. Verallgemeinern läßt sich diese Beziehung ohnehin nicht. Das sensible Kind Henri ist — und das macht den Leser skeptisch — in manchen Reaktionen ein Musterexemplar.

Es geht jedoch hier nicht um ein reales Abbild. Die frische Erinnerung des Schmerzgeprüften verklärt Das ist glaubwürdig. Eingebettet ist die Totenklage des Vaters in eine harte Gesellschaftskritik. Der Verkehrsunfall wird zum Mord, den das Establishment an den unschuldigen Opfern verübt. Das Schicksal von Kindern als Ansatzpunkt einer engagierten Haltung ist übrigens ein Motiv, das sich zum Beispiel auch bei Heinrich Böll findet. Weitere Ansatzpunkte, die leicht ins Religiöse weisen, sind Beileidskult und Begräb- nisindustrie. „Echtes Mitgefühl“ — Seite 107 — „kann tröstlich sein, diese mit christlichen Sprüchen versehenen Druckerzeugnisse aber sind geschmacklos und wirken abstoßend. Nur wenige handgeschriebene Briefe. Einen Pfarrer an deinem Grab hätte ich nicht ertragen. Petra sagte mir, Papa, du hast Henri und mich so erzogen, daß wir nicht an Gatt glauben konnten.“

Die christliche Legende von der Herzlosigkeit der Atheisten ist in diesem Buch gründlich widerlegt. Anzumerken ist freilich, daß eine atheistische Erziehung auch eine religiöse Erziehung ist. Die Fixierung des Unrechts an das Ärgernis der Kirchengeschichte ist ein Vorurteil. Es wäre eine klassische christliche Interpretation denkbar, die behauptet, daß dieses Kind sterben mußte, weil Gott es nicht mehr länger dem gottlosen Einfluß des Vaters aussetzen wollte.

Auffallend an dieser Erzählung ist schließlich die Rolle, die der Alkohol in ihr spielt. Der Outsider der Gesellschaft fällt förmlich von einer Betäubung in die andere. Rausch ist stärker als Sex.

Damit erhält die Klage nihilistische Akzente. Das Unerträgliche, das uns so stark anrührt, wird zum Fluchtmotiv. Das Leid ist zum Lied geworden, welches den Untergang des Mannes in unserer Gesellschaft begleitet.

HENRI. Von Hans Frick. Im Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg. 110 Seiten. DM 12.—.

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