6879474-1979_04_11.jpg
Digital In Arbeit

Urteile und Vorurteile

Werbung
Werbung
Werbung

Wie so leicht bei Sammelwerken, ist das Buch nicht aus einem Guß, sondern widergibt die unterschiedlichsten Standorte der vierzehn Verfasser. Ihre Geburtsjahrgänge liegen zwischen 1930 und 1947. Ihr Sammelwerk ist bezeichnend für die Soziologisie-rung der Germanistik durch eine Generation junger Wissenschaftler. Zwei Autoren heben sich durch literaturgeschichtliche Substanz der Darstellung von den anderen ab: Peter Uwe Hohen-dahl mit seinem Aufsatz „Vom Nachmärz bis zur Reichsgründung“ und Rainer Nägele mit seinem Aufsatz „Deutsche Demokratische Republik“. Der erstere studierte in Bern, Göttingen und Hamburg, der letztere in Innsbruck und Göttingen; beide lehren heute an amerikanischen Universitäten.

Am befremdlichsten bei der Auswahl der Mitarbeiter wirkt, daß Jost Hermand Gelegenheit bekam, über die politische Lyrik in der Bundesrepublik Deutschland zu schreiben. Der 1930 Geborene, der als Germanist an der University of Wisconsin in Madi-son lehrt, war ein Schüler des Marburger Professors Richard Hamann, der von 1947 bis 1957 als Gastprofessor an der Ostberliner Humboldt-Universität wirkte und 1950 den Nationalpreis der DDR erhielt. In Madison profilierte sich Hermand als prominenter Vertreter marxistischer Literatursoziologie. Sein Beitrag in diesem Sammelwerk könnte in jedem Lehrbuch der DDR stehen: er unterrichtet darüber, daß in der Bundesrepublik „trotz Faschismus und Monopolkapitalismus weiterhin am klassischen Modell des frühbürgerlichen Wettbewerbs festgehalten wurde, um so der Bevölkerung die Illusion einer wahrhaft .freien Welt' zu suggerieren“, und er breitet sich darüber aus, daß in der Bundesrepublik Werbesprüche und Schlager als „die massivsten Ausdrucksformen“ der politisch-affirmativen Lyrik „in den abgegriffensten Formeln eine kapitalistische Konsum- und Liebesideologie verkünden, die sich für das in diesem Lande herrschende .System' als ein enorm stabilisierender Faktor erweist“. Und wenn er Rudolf Alexander Schröder als Verfasser einer von Heuß gewünschten neuen Nationalhymne nennt, dann begnügt er sich nicht mit der Namensnennung, sondern schmückt ihn mit der Bezeichnung als bewährter Weltkriegsbarde. Beispiele für den erschreckenden Niveauverfall politisierter deutscher Literaturwissenschaft.

Problematisch mutet der Titel des Sammelwerks an. Ist doch beispielsweise der mittelalterliche Minnesang im Römischen Reich deutscher Nation weitgehend österreichischer w Provenienz! Daß die politische Lyrik im heutigen Österreich nicht behandelt wird, rechtfertigt sich durch den Titel. Anders hält man es mit Weinheber. Seine Dichtung findet ausführliche Behandlung in Uwe-K. Ketelsens Aufsatz „Nationalsozialismus und Drittes Reich“: „Gerade Weinhebers Oden“, heißt es darin, „zeigen, wie ein lyrischer Sprecher, ohne scheinbar die Grenzen von .Dichtung' zu überschreiten, in einem spezifischen historischen Spannungsfeld seine Selbständigkeit aufgibt und in einen politischen Handlungsraum tritt“. Daß auch in anderen Beiträgen Konsequenz im Blick auf den Titel fehlt, zeigt der Aufsatz „Im deutschen Kaiserreich“. Hier wird „im Bannbereich der machtgeschützten Innerlichkeit des Kaiserreichs“ nicht nur Stefan George genannt, sondern auch Hofmannsthal und Rilke, und hier ist die Rede 'von Hofmannsthals und Roda-Rodas Kriegslyrik und Karl Kraus' „Letzten Tagen der Menschheit“.

Alexander von Bormann

spricht in seinem Beitrag über die Zeit der Weimarer Republik von dem rhetorischen Gerumpel, das die Scheuer der politischen Lyrik zu 90% füllt. Was man an diesem Sammelwerk am meisten bedauern muß: daß seine Autoren sich mit den 90% beschäftigen, anstatt sich jener 10% anzunehmen, wo zu dem politischen Thema ein ästhetischer Wert hinzutritt.

GESCHICHTE DER POLITISCHEN LYRIK IN DEUTSCHLAND. Von Walter Hinderer. Re-clam-Verlag, Stuttgart, 1978, öS 294,20.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung