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USA: Stärker als in Jalta

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Niemals zuvor haben die Massenmedien so viel und umfassend über eine Gipfelbegegnung zwischen den Führern der beiden Supermächte berichtet.

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Niemals zuvor haben die Massenmedien so viel und umfassend über eine Gipfelbegegnung zwischen den Führern der beiden Supermächte berichtet.

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Die beiden Gesprächspartner, der US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow, könnten schwerlich verschiedener sein: ein 74 Jahre alter antikommunistischer Präsident und der 54jäh-rige Ideologe, der zugleich der vierte Parteichef der KDdSU innerhalb von vier Jahren ist.

Zwei Weltanschauungen und zwei Generationen standen einander gegenüber: Ronald Reagan, der den Vereinigten Staaten nach Vietnam und Watergate wieder das alte Selbstvertrauen eingeflößt hat, ein Präsident, der die USA trotz Budgetkrise wiederum zur Wirtschaftslokomotive des Westens gemacht hat, und Michail Gorbatschow, der die Sowjetunion nach einem Jahrzehnt der Stagnation und nach dem Abtreten der Generation der Gründerjahre mit neuem Stil und alten Ideen wieder in Schwung bringen wül.

Aus historischer Perspektive betrachtet, brachten die bisherigen Gipfelbegegnungen wenig Substantielles: der im allgemeinen als am erfolgreichsten betrachtete Gipfel in Moskau im Jahre 1972 zwischen Nixon und Breschnew wurde schon ein Jahr später durch das harte Aufeinanderprallen der Interessen der beiden Großmächte im Gefolge des Nahostkrieges in seiner Bedeutung drastisch entwertet.

Der Wiener Gipfel des Jahres 1979 hatte eine noch kürzere Wirkungsperiode. Noch im selben Jahr verhinderte die Sowjetunion durch ihren Einmarsch in Afghanistan eine Ratifizierung des SALT-II-Vertrages durch den amerikanischen Senat.

In einem sind sich die amerikanischen Beobachter des politischen Weltgeschehens einig: Genf war das Aufeinandertreffen zweier Mediengiganten. Gorbatschow habe als erster sowjetischer Parteichef bei seinen Besuchen in London und Paris gezeigt, daß er im Gegensatz zu seinen Vorgängern mit westlichen Medien umgehen kann.

Auch schon die Tatsache, daß Genf die erste Begegnung seit sechs Jahren war, sei positiv zu beurteilen.

Ronald Reagan hatte in Genf die bislang stärkste Verhandlungsposition eines amerikanischen Präsidenten. Die gegenwärtige wirtschaftliche Dynamik der USA hat sowjetische Kassandrarufe, die während der von Inflation und Arbeitslosigkeit geplagten Carter-Administration schon den historischen Niedergang des kapitalistischen Wirtschaftssystems prophezeit hatten, völlig widerlegt.

Das Bruttonationalprodukt der UdSSR beträgt noch immer ungefähr die Hälfte des amerikanischen. In den militärisch relevanten Technologien, so eine Pentagonstudie, sind die USA in 15 von 20 Teilbereichen der UdSSR überlegen, nur in 5 Bereichen herrscht Parität, ja im Computer- und Software-Bereich vergrößert sich der Vorsprung.

Die Popularität des amerikanischen Präsidenten ist ungebrochen. 67 Prozent der Amerikaner waren am Vorabend der Gipfelbegegnung der Meinung, Ronald Reagan habe als Präsident ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Für seine Außenpolitik erhielt Reagan kürzlich, wohl im Zusammenhang mit der Entführung der „Achille Lauro“, die bisher besten Noten seiner sechsjährigen Präsidentschaft.

Auch das atlantische Bündnis befindet sich in ausgezeichneter Verfassung, eine Tatsache, die beim letzten NATO-Treffen in Brüssel wieder durch ein harmonisches Kommunique bestätigt wurde. Anfang November entschloß sich nun auch die holländische Regierung als letzter NATO-Partner zur Aufstellung von Marschflugkörpern.

Auch die schon traditionellen Unstimmigkeiten innerhalb der amerikanischen Administration, der Konflikt zwischen den Falken und den Tauben, der seit Reagan noch mehr in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, ist nichts Neues und kann schwerlich davon ablenken, daß es an Gorbatschow liegt, Konzessionen anzubieten.

Durch die Ausweitung der Gesprächsagenda — es wurden nun auch Regionalkonflikte und Menschenrechte einbezogen — hat Reagan nach Meinung der meisten Beobachter Gorbatschow in die Defensive gedrängt.

Hier am Potomac sah man mit wenig Optimismus dem Genfer Gipfel entgegen. Politische Beobachter sind jedoch einstimmig der Ansicht, daß Genf die letzte Chance für Reagan gewesen ist, das verfahrene Ost-West-Verhältnis wieder in Gang zu bringen.

Dies ist auch der Grund, warum das Weiße Haus und die Massenmedien dieser Begegnung so viel Bedeutung beigemessen haben. Ronald Reagan möchte als Friedenspräsident in die amerikanische Geschichte eingehen.

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